34 Bronze-Eisenzeilt
Der „Kanon der Lieder‘ (Shiking) enthält eine Sammlung von Versen, die bis
zum 12, Jahrhundert v. Chr. zurückdatiert sind. Diese klassischen Gedichte werden
bei jedem gebildeten Chinesen als bekannt vorausgesetzt. Zahlreiche Bilder sind nur
an Hand der verschiedenen Andeutungen in den Gedichten, die bis zur Tangzeit
wesentlich vermehrt worden sind, zu verstehen. Wenn z. B. im Altertum der da-
maligen Form entsprechend stets nur vom „mondrunden‘ Fächer gesprochen wird,
so bleibt diese Fächerform noch heute für die Bilder vornehmer Frauen maß-
gebend, wenn auch längst der Faltenfächer eingeführt ist. Die dargestellte Frau
würde ohne dieses Symbol der Frauentugend gleichsam als minderwertig erscheinen.
Für die Pferde gelten Schimmel oder Füchse am vornehmsten, und so sehen wir noch
in der Mingzeit (Taf. IX, c) als Zeichen der Vornehmheit den Schimmel gemalt. Es
ist, als wenn die bezeichnenden Beiwörter Homers, des Zeitgenossen dieser Gedichte,
für unsere modernen Maler maßgebend sein sollten! In China ist die einmal ent-
standene Idee und Sitte niemals verworfen worden.
Aber nicht nur die Menschendinge, sondern auch die ewig wechselnde Natur
sind in einen Kreis von feststehenden Anschauungen gebannt. So schwanken die
Weiden im Frühlingswind, während der Herbstwind in die Kammer weht; vom
Norden kommt der kalte und vom Süden der sanfte Wind; der Pfirsichbaum ist stets
in Blüte, der Sorbenbaum schattenreich und die Hirse ährenschwer. Die wilden
Gänse schreien im Chor, und die Enten schwimmen paarweise als Symbol der ehelichen
Treue. Die Maler sind bis zum heutigen Tage an diese Vorstellungen gebunden, etwa
wie die Heiligen der christlichen Kirche Gewänder von bestimmten Farben tragen
und bestimmte Stellungen einnehmen müssen. Die Form, die vor 3000 Jahren ein
Dichter zufällig oder in der Beobachtung der Natur seinen Versen gab, hat die
zwingende Kraft eines unabänderlichen Kanons erhalten. Daher in der Malerei die
stetige Wiederholung gewisser Motive.
Andererseits haben diese oft herrlichen Gedichte aus einer Zeit, da alles Leben
sich auf dem Lande abspielte, jene feine und sorgfältige Naturbeobachtung bedingt,
die der europäischen lange Zeit weit überlegen war. Der Chinese will nicht nur den
ungefähren Eindruck des Baumes oder des Tieres in bezug auf Farbe oder Form
hervorrufen, nicht nur eine zufällige Darstellung geben, sondern er hat die Bewegung
des Bambus oder des Reihers und den Wechsel, den Jahreszeit und Alter hervor-
gerufen, genau beobachtet. Und was die Dichter zuerst in Formen gefaßt, das
haben die Maler später auf Seide übertragen. Unzählige Studien nach der
Natur haben sie gemacht oder nach den Vorlagen großer Meister kopiert,
um so das Typische in Bewegung und Farbe herauszufinden. Daher ist es kein
Zufall, wenn die Enten stets paarweise und die Gänse im Chor gemalt werden,
sondern nach sorgfältiger Beobachtung ist es die für die Tiere charakteristische
Lebensweise.
Bekannt ist, !) daß selbst ein Goethe von der chinesischen Literatur angeregt
worden ist. In seinen Gesprächen mit Eckermann sagt er: „Es ist bei ihnen (den
chinesischen Dichtern) alles verständig, bürgerlich, ohne große Leidenschaft und
poetischen Schwung und hat daher so viel Ähnlichkeit mit meinem ‚Hermann und
Dorothea‘.“ ‚Es unterscheidet sich aber wieder dadurch, daß bei ihnen die äußere
Natur neben den menschlichen Figuren immer mitlebt. Die Goldfische in den Teichen
hört man immer plätschern, die Vögel auf den Zweigen singen immerfort, der Tag
ist immer heiter und sonnig, die Nacht immer klar.“
Ein derartiger Einfluß der Poesie oder, richtiger gesagt, gewisser alter Gedichte
bis auf den heutigen Tag ist natürlich nur möglich, weil nach Konfuzius in den
letzten 2300 Jahren kein Genie gelebt hat, das die Autorität besessen hätte, diese
1) Fr. Andreae, China und das achtzehnte Jahrhundert. Schmollerfestschrift 1908.