Full text: Die Baukunst. Das Kunstgewerbe: Bronze, Töpferei, Steinarbeiten, Buch- und Kunstdruck, Stoffe, Lack- und Holzarbeiten, Glas, Glasschmelzen, Horn, Schildpatt, Bernstein und Elfenbein (Band 2)

90 Das Kunstgewerbe 
schaft, Rechtsprechung, überhaupt alle Kenntnisse für das öffentliche Leben be- 
herrscht und in der alten Überlieferung konserviert. Es fehlt seit der Einführung 
der indisch-buddhistischen Religion im Beginn der christlichen Zeitrechnung jede 
durchgreifende geistige Reformation und auch die militärischen, juristischen und 
medizinischen Arbeiten entbehren jenes Streben der Fortentwicklung, wie es die 
Differenzierung der Völker in den europäischen Ländern bedingt hat. Immer wieder 
wurden die alten Schriften gelesen und im besten Falle interpretiert, aber niemals 
beiseite geworfen. 
Daher kommt es, daß die Gebiete der Literatur begrenzt sind. Geschichte und 
Philosophie, Gedichte und Religion nehmen den größten Raum in Anspruch. Tages- 
fragen werden öffentlich wenig erörtert, das Theater ist für die niedrigsten Volks- 
instinkte ohne künstlerischen Wert. Vor allem weite Gebiete wie Architektur 
und Konstruktionslehre, Physik und Chemie, kurz alle Gebiete der exakten Wissen- 
schaft werden im Verhältnis zu Europa in der Literatur fast völlig vernachlässigt. 
Diese Eigentümlichkeit hängt auch damit zusammen, daß das Interessengebiet 
des Chinesen ein wesentlich begrenzteres als des Europäers ist. Die Landwirtschaft 
ist seit Jahrtausenden unverändert und dementsprechend die Ernährung, die soziale 
Struktur des Volkes und die Sitte. Ausschlaggebend ist noch heute die im Klein- 
betrieb arbeitende Landbevölkerung. Dazu kommt das eigenartige Verwaltungs- 
system, das unter Umständen alle Mittel heiligt, die das Aufblühen einzelner Gegen- 
den wegen der damit verbundenen Revolutionsgefahr verhindern. Das Streben 
nach Neuerungen wurde infolge des Aussaugesystems durch die Beamten entweder 
materiell unterbunden, moralisch von vornherein verhindert oder mit Gewalt 
niedergeschlagen. Daher fehlte jenes Streben, durch Steigerung der Kulturgüter die 
gegebenen Ungleichheiten auszugleichen. Dieses Streben aber bedeutet in Wirklich- 
keit den Fortschritt der Zivilisation. Die verschiedensten Faktoren haben so 
zusammengewirkt, um eine erweiterte Interessensphäre in China nicht aufkommen 
zu lassen, während die vorhandene allerdings intensiver ausgearbeitet und viel 
allgemeiner verbreitet ist als bei uns. 
Ähnlich sind die Verhältnisse in der Kunst. In der Außen- und Innenarchitektur 
fehlen die umwälzenden Neuerungen, die Europa in zwei Jahrtausenden durchlebt 
hat. In Technik und Form sind die alten Vorbilder beibehalten, nur die Aus- 
führung ist unter dem Einfluß der vorwiegend maßgebenden Malerei verschieden- 
artig behandelt. Die Vielseitigkeit fehlt im Verhältnis zu Europas Kunstbetätigung. 
Dadurch ist andererseits das Verständnis für die wenigen Betätigungsgebiete viel 
stärker entwickelt als bei uns. Der gebildete Chinese braucht keine griechischen und 
römischen Schriften zu lesen, keine Naturwissenschaft und Techniken zu lernen, aber 
die Geschichte und Sprache seiner Heimat und damit zusammenhängend die der 
Philosophie und Kunst kennt er gründlich. In begrenztem Maße ist jeder gebildete 
Chinese Philosoph, Dichter und Kunstkenner, während er die bei uns über- 
schätzten Gebiete einer materialistischen Zivilisation verachtet, mindestens aber ver- 
nachlässigt. 
Die Chinesen sind das einzige Volk der Welt, das schon in früher Zeit angefangen 
hat, über seine vorhistorische Geschichte nachzudenken und zu forschen. Ebenso 
hat man in China schon früher als bei uns, aber doch erst in den Zeiten des 
Mittelalters angefangen, Sammlungen antiker Gegenstände anzulegen und zu 
beschreiben. Die Kataloge derartiger Sammlungen sind noch heute die Grundlagen 
aller Forschungen über das Kunstgewerbe. Bei dem zähen Festhalten an den 
alten Formen waren die illustrierten Werke des Mittelalters gleichzeitig die Vor- 
lagen für spätere Handwerker und erleichterten die Herstellung ähnlicher Stücke. 
Es ist ein Gewohnheitsgesetz in Ostasien, daß für jeden Gegen- 
stand Material und Stil wie zur Zeit seiner ersten Einführung 
    
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
   
  
  
  
  
  
    
 
	        
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