106 Bronze — Allgemeines
die Entwicklung der Kunst immer vom Naturalistischen zum Stilistischen führt
(Bd.I, 8. 24), und daß nur eine ursprünglich bedeutungsvolle Form sich zum line-
aren Ornament verflüchten kann.
In diesem speziellen Falle widerspricht außerdem auch das Material selbst.
Hörschelmann hat die einzelnen Ornamentteile losgelöst von der ganzen Form be-
trachtet und dabei übersehen, daß mit der Ornamentik zugleich auch die Gefäß-
‘formen und Techniken nach China kamen. Diese eleganten Gefäße mit graziösen
Bügeln und die in voller Plastik herausgearbeiteten Tierköpfe an einem angeblich
ältesten Stück!) (Bd. I, Abb. 6) zeigen eine so völlige Beherrschung der Technik
und des Stiles, daß (vgl. Bd. I, S. 20—24) ein bestimmender Einfluß einer viel höheren
Kultur angenommen werden muß. Wir hatten besonders aus der Ähnlichkeit des
Wolkenmusters (Bd. I, Abb. 8) und manchen anderen Übereinstimmungen einen
Zusammenhang mit dem ungefähr gleichzeitigen westlichen Kulturkreise erkannt,
der nach den Funden von Mykenä als „mykenisch‘ bezeichnet wurde.
Erst mußte ein Tier dargestellt sein, damit geistlose Handwerker in Kopien
nach Kopien stilisierte Ornamente gestalteten, bei denen schließlich bloß Augen
oder Geweihe übrig blieben. Es geht aber nicht an, anzunehmen, daß zuerst Augen
gezeichnet und dann stückweise immer neue Teile hinzugefügt wurden, bis das
komplizierte Phantasietier fertig war. Welche Bedeutung hätte denn auch das Augen-
paar für den Gläubigen gehabt, wenn es nicht der stenographierte Ausdruck für ältere,
in der Tradition heilig gewordene Symbole gewesen wäre.
Auch in diesem umgekehrten Sinne der Entwicklung ist es nicht möglich, irgend
eine Reihe aufzufinden, denn an einem Stück sind nebeneinander ganze Tiere und
Augenornamente, plastische Köpfe und lineare Ornamente angebracht.
Ich glaube, daß es daher viel richtiger ist und der Wahrheit näher kommen
dürfte, die ganze Kunst bis zum Eintritt der sehr charakteristischen Hankunst
als die Vorhankunst zu bezeichnen und nicht — wenigstens nicht mit dem heute
vorliegenden Material — in die Zeiten der einzelnen Dynastien, die an sich halb
legendenhaft sind, aufzulösen. Offenbar hat der Verfasser des Pokutulu, im Streben,
die historische Entwicklung den alten Annalen anzupassen, ziemlich willkürlich
seine Einteilung getroffen und dadurch bis zum heutigen Tage in Asien und im Abend-
lande das Unheil angerichtet, so daß es schwer ist, von diesen Angaben frei zu kommen
und völlig objektiv den Dingen gegenüberzustehen.
Außerdem aber haben diese Abbildungen sowohl in China als in Japan als Vor-
bilder für alle Gießer von antikisierenden Bronzen gedient, so daß die Unterscheidung
von Originalen und Nachahmungen häufig bis zur vollen Unmöglichkeit gesteigert wird.
Wenn es sich selbst um echte Originale handelt, wie bei obigem Kessel (Abb. 150),
so sind die Inschriften auch nicht ohne weiteres für die Datierungen maßgebend,
sondern man muß schon chinesische Kombinationsgabe besitzen, um überhaupt
nur zu verstehen, wie der erste Gelehrte auf das Datum gekommen ist, das die spä-
teren einfach nachgeschrieben haben. Nach Bushells Übersetzung besagt die archaische
Inschrift des Silberinselgefäßes in 94 Zeilen?) unter anderem: „Im neunten Monate
am Tage nach Vollmond, im 60tägigen Zyklus Chia-hsü“, „Nan Chung, der Minister
der Erziehung, kam mit mir, Wu Chuan, zum Tore und stand in der Mitte der
Audienzhalle‘“ usw. Nun haben Schriftgelehrte nach dem Duktus der Schriftzeichen
die Gravur der Zeit des Kaisers Hsüan Wang (827—782 v. Chr.) zugeschrieben.
Ein Mann namens Wu Chuan ist in den alten Annalen aus dieser Zeit unbekannt,
aber in einem alten Gedichte wird der Führer einer kriegerischen Unternehmung
gegen Rebellen Nan Chung genannt und daher eine Identität mit dem erwähnten
1) Hörschelmann, Tafel I.
2) Bushell, Chinese art, Bd. I, Fig. 48, Übersetzung $. 83.
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