Spiegel mit Lack — Buddha-Reliquien 169
Buddhistischer Stil
Bei allen bisher betrachteten Stilen war die Dekoration auch bei der Darstellung
von Menschen im wesentlichen an die Fläche gebunden. Erst die Kultgeräte der
indischen Religion lehrten den freistehenden Menschen darzustellen. Gleichzeitig
wurde es ermöglicht, eine Ausdrucksform für die Persönlichkeit zu finden, während
früher nur Typen von Menschen dargestellt waren.
Den gräko-indischen Kultstil der Gandharakunst haben wir im Kapitel über die
hohe Kunst bereits kennen gelernt (Bd. I, S. 127). Eine moderne Ausgrabung von
eroßer Bedeutung zeigt uns den ältesten Übergangsstil in die Kleinplastik. Die sterb-
lichen Reste Buddhas waren als kostbare Reliquien an mehrere Staaten verteilt. Über
den heiligen Kleinodien wurden große Stupas errichtet, deren Ruf in die weite Welt
der Gläubigen drang. Fromme Pilger, so auch chinesische, zogen an die verehrten
Stätten und beschrieben ihre Wallfahrten. Die hohen Pagoden sind längst zerstört,
aber die Reisebeschreibungen gestatteten, einzelne Orte der alten Verehrung aus-
findig zu machen. Moderne Forscher!) gruben nach und fanden auch wirklich
Reliquien aus der frühhistorischen Zeit. So kam eine runde Bronzebüchse mit Deckel
zum Vorschein, die das Bildnis des Königs Kanishka (272—232 v.Chr.) trägt. Dieses
kostbare Bronzestück zeigt uns deutlich den gräko-indischen Stil, sowohl in der
Vollplastik der buddhistischen Götter als auch in dem Relief der historischen Personen.
Die Form der runden Büchse mit dem Relieffries und dem Deckel (Abb. 281)
ist die altgriechisch-römische Form der Zista, in der heilige Utensilien und Geräte
vom Kultus der Ceres und des Bacchus in feierlicher Prozession einst durch die
Straßen Roms getragen worden waren. Eine ähnliche runde Gefäßform haben wir
bereits bei dem mittelasiatischen Mischstil kennen gelernt (Bd. I, Abb. 47, 48). Die
dortige Ausführung in Ton mit dem stilisierten Relief (Abb. 372,b, 375), das wahr-
scheimlich älter als das buddhistische Relief in Indien ist, war bereits eine völlig
selbständige östliche Ausgestaltung, vielleicht des gleichen westlichen Vorbildes,
aber es zeigt in den Stileinzelheiten wesentliche Abweichungen.
Demgegenüber haben wir in dem buddhistischen Gefäß den hellenistischen
Stil in viel reinerer Gestalt erhalten. Der Randfuß, die Gliederung, der zweiteilige
Fries in starkem Relief und die aufgesetzten Figuren atmen noch den Geist grie-
chischer Kunst, aber ein schlechter Handwerker hat in der alten Technik, im Stile
einer erstarrten Tradition, die Figuren komponiert und geformt. Die äußerlichen
Mittel sind von den Griechen entlehnt, aber der edle Geist antiker Klassık ist ver-
loren, und die neue Seele buddhistischer Kunst den Figuren noch nicht eingehaucht.
Erst spätere Schüler der Weisheitslehre in Indien, Zentralasien und China schufen
aus dem überlieferten Handwerk eine neue Kunst.
Künstlerisch kann uns daher die Urne wenig sein, aber um so mehr stilistisch.
Der König von Kaschmir, Kanishka, bekehrte sich zum Buddhismus und ließ Münzen
schlagen, die auf einer Seite sein Porträt in stehender Figur und auf der anderen
das Bild Buddhas trugen. Bekanntlich ist auf den ältesten indischen Reliefs niemals
Buddha selbst dargestellt, sondern immer nur die Umgebung, wo seine Handlungen
sich abspielten. Daher fehlte noch Jahrhunderte nach seinem Tode ein Porträt des
Lehrers und das Bild auf der Münze; die durch Kanishkas Porträt datiert ist, gilt als die
1) Marshall, Royal Asiatic Society, Oktober 1909. — Marshall und Spooner gruben bei
der Kanishka-Pagode zu Purushapura, dem heutigen Peshawur, genau an der Stelle, die der
chinesische Reisende Hiuen Tsang im 6. Jahrhundertangegeben hatte, und fanden die Reliquien.