398 Stoffe — Stiekereien und Gewebe
Während die obigen Muster im Westen entstanden waren, sind umgekehrt auch
chinesische Webereien mit ihren nationalen Bildmustern nach dem Westen gekommen
Abb. 574 Frau mit Fächer und Kind,
farbige Seiden- und Goldstickerei auf
weißem Atlas, Teil eines Wandschirmes,
1,65 m hoch. Zentralasiatische Arbeit.
British Museum, London, Anfang 18.Jahrh.
(Aus: Bushell, Chinese art, Bd. II)
Text s. S. 403
und dort als Vorbild verwendet worden. So ist
z.B. auf einem Wollteppich!) ein Mittelstück mit
fliegenden Kranichen zwischen Wolken eingefüst,
das ein in Persien ganz unbekanntes Motiv ist,
sich aber auf chinesischen Bildern und auch auf
Stoffen nicht selten findet. Derartige Übertra-
gungen von chinesischen Originalvorlagen dürften
im Westen sehr selten gewesen sein und durchaus
als Ausnahme bei kostbaren Stücken gelten.
In diesem Zusammenhange seien auch die
Teppichmuster hinzugezogen. Drache,
Phönix und Wolkenband sind die drei be-
kanntesten Motive, die ursprünglich auf ost-
asiatische Anregung zurückgehen und daher
überall als chinesisch gelten. Aber die Ausführung
ist durchaus nicht chinesisch. Es handelt sich —
mit ganz vereinzelter Ausnahme — bei keinem
der mir bisher im Original oder Abbildung zur
Kenntnis gekommenen vielen kostbaren Teppiche
und Stoffe um die Kopie von Teilen eines chine-
sischen Stoffes oder Bildes, sondern stets um
eine selbständige westasiatische Ausgestaltung
des. fremden Motivs. Die Stilisierung ist stets
völlig unchinesisch.
Da es in China keine Wappen in unserem
Sinne gibt, so sind in bestimmter Form stilisierte
Tiere gänzlich unbekannt. Der Drache ist ebenso
wie der Phönix ein Macht- und Glückssymbol,
ähnlich wie in Europa der Löwe und der Adler.
Auch der kaiserliche Drache hat keine bestimmte
heraldische Form, sondern wird je nach Zweck,
Material und Raum tausendfach variiert (Abb. 578
bis 581). Gerade die unübersehbare Vielseitigkeit
der Drachendarstellung ist für die chinesische
Auffassung charakteristisch. Auf Bildern und
Skulpturen, auf Bronzen und Staatskleidern,
überall ist er dargestellt, aber stets abweichend
im Stil und in der Stellung. Es ist ganz er-
klärlich, daß ein derartiges Motiv über die
engen Grenzen der Heimat bekannt wurde und
schließlich als beliebtes Ornament im Auslande
viel Nachahmung fand.
Die stilisierten, meistens mißverstandenen
Drachen und Phönixe auf Teppichen und
Stoffen Zentral- und Westasiens sind lokale
Ausgestaltungen, die stilistisch, technisch und
inhaltlich gar nichts mit den chinesischen Symbolen gemeinsam haben. Wie Löwe
und Adler in der europäischen Kunst, ihrer politischen und historischen Bedeutung
{) Im Kaiser-Friedrich-Museum, Berlin. Abbildung bei Martin, Oriental carpets, Fig.85.