402 Stoffe — Stickereien und Gewebe
Künstler niemals getan hat. Aus einem sekundären Füllmotiv wurde im Westen
ein Dekor von maßgebender Bedeutung.
Die Idee und Anregung für Phönix, Drachen und Wolkenband sind unzweifelhaft
von China ausgegangen, aber die stilistische, rein ornamentale Ausführung ist
eine westasiatische Chinoiserie, die mit dem Geiste des Mutterlandes gar nichts zu
tun hat. Gerade durch die Abweichungen in der Ausführung können wir die
eigenen Kunstsprachen des Ostens und Westens erkennen. Alle Flachornamente
Abb. 578 Kaiserliches Staatskleid aus hellgrünem Atlas, mit Seiden- und Goldstickerei;
Drachen aüs der See in die Wolken aufsteigend und andere symbolische Darstellungen,
British Museum, London
(Aus: Bushell, Chinese art, Bd. II, Fig, 118)
Text s. S. 406 :
der eleganten Stoffe der Tangzeit sowie die Muster des Emaille und Porzellans ver-
danken Vorbild und Anregung dem Westen; in China wurden sie aber durch den Ein-
fluß der naturalistischen Malkunst eigenartig ausgestaltet. Umgekehrt verflachten die
lebensvollen Motive Chinas im Westen zu unorganischen, rein dekorativen Ornamenten.
Chinas Eigenart und selbständige Erfindung in dem letzten Jahrtausend liegt -
daher nicht auf dem Gebiete der rein dekorativen Flächenstilisierung, in der West-
asien stets Meister und Anreger blieb, sondern in der Übertragung der naturalistischen
Malerei auf die Dekorationen des Kunstgewerbes. Das Streben, im Rahmen der
geometrischen Konstruktion die Pflanze möglichst naturalistisch zu zeichnen, erscheint
mir als die charakteristische Eigenart der chinesischen Weber des zweiten Jahrtausends.