Wohnungsfrage.
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II. Wohnungsfrage.
In enger Verbindung mit dem Anwachsen der Bevölkerung steht natur-
gemäss die Wohnungsfrage. Dieser Gegenstand ist quantitativer und quali-
tativer Art. In ersterer Beziehung sollte die Gesammtzahl der Wohnungen in
einer Stadt mit derjenigen der Familien, oder das Gesammtvolumen der be-
wohnbaren Gelasse mit der Eınwohnerzahl zunehmen. Ja, die Herstellung von
Wohnungen muss dem Anwachsen der Bevölkerung stets etwas voraus gehen,
damit genügende Auswahl, Ausgleich bei Umzügen und Zeit zu Reparaturen
bleibt. In Berlin hält man zu diesern Zweck für angemessen, dass stets 2—3%
aller Gelasse leer stehen. Zuweilen ist dieser Prozentsatz in gewissen Orten
bis über 7 gestiegen. So verminderte sich in Hamburg die Zahl der leer stehen-
den Gelasse stetig von 1867 bis 1373, wo sie nur 1% betrug, als Kennzeichen
der damals fühlbaren Wohnungsnoth. Von da an stieg das Verhältniss wieder
und erreichte 1880 als Folge der Ueberproduktion 7%.
Die Ursache für den Mangel an Wohnungen kann entweder in einem
Voreilen des Wachsthums der Bevölkerung, oder iin einer absoluten Verminderung
der Wohnungsgelegenheit liegen. Das Abreissen von Häusern wegen Strassen-
korrectionen (Paris), Eisenbahnbauten (London) oder anderer Öffentlicher An-
lagen (Zollanschluss in Hamburg), auch der Umbau von Wohnhäusern zu
Geschäftsgebäuden u. dgl. veranlasst die Bewohner nicht immer und sofort, sich
zu zerstreuen, vielmehr sich in den übrig bleibenden, nahe belegenen Woh-
nungen um so enger zusammen zu drängen.
Es handelt sich aber in einer wachsenden Stadt nicht blos um die Gesammt-
zahl, sondern um geeignete Zunahme in den einzelnen Klassen von Wohnungen,
je im Verhältniss der darauf angewiesenen Bevölkerungsschicht. Während bei
vornehmen und mittlern Wohnungen ein Nothstand stets nur kurze Zeit an-
zudauern und jetzt überhaupt nicht mehr vorzukommen pflegt, beobachtet man
fast überall, dass das Bedürfniss an kleinen Wohnungen langsam oder
ungenügend befriedigt wird. Der Unternehmer scheut sich vor dem grössern
Risiko, der umständlichern Verwaltung, dem schwierigern Verkauf derartiger
Häuser. Die Wohnungsnoth muss daher schon hoch gestiegen sein, bis die
Spekulation sich auf den Bau von kleinen Wohnungen wirft. So ergiebt die
Statistik von Leipzig folgende Klassifikation der Gesammtzahl der bewohnten
und der Gesammtzahl der leer stehenden Wohnungen:
Miethklassen bewohnt 1880 leer stehend 1885
unter 400 A 59% 33%
400-800 26 „, 33 „
über 800 „ 15, 34 „
Während bei normalen Zuständen die Klassentheilung der benutzten Wohnungen
mit derjenigen der leeren übereinstimmen müsste, zeigt sich hier ein ungenügen-
der Vorrath von kleinen und ein überreichlicher von vornehmen Wohnungen.
Von „kleinen Wohnungen“ giebt es in fast allen deutschen Städten zu wenige
gegenüber der Zahl der Familien und zu theuer gegenüber den Mitteln der
Bewohner: beides hängt nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage zusammen.
Im weitern sind Forderungen qualitativer, vornehmlich gesundheitlicher
Art zu beachten. Die Zunahme der Ansprüche an eine gute Wohnung ist
eine an sich erfreuliche Erscheinung. Um das Erforderniss der Gesundheits-
pflege dreht sich zumeist die Wohnungsfrage unserer Zeit, und vorzugs-
weise wieder mit Bezug auf kleine Leute, für welche in deutschen Städten die
Wohnungen vielfach zu schlecht und zu theuer sind, d. h. angemessen gute
Wohnungen unerschwinglich, billige schlechter als beansprucht werden darf.
In dieser Hinsicht bleibt Wohnungsnoth, so lange nicht Jedermann ein „menschen-
würdiges Dasein“ gewährt ist, d. h. entsprechend seiner gesellschaftlichen
Stellung mit einem gewissen, wenn auch sehr bescheidenen Ueberschuss über
die baare Nothdurft. Nach allgemeiner Ueberzeugung bildet die Besserung der
Wohnungs-Verhältnisse der Arbeiter die unerlässliche Vorbedingung für den
Erfolg jeder andern sozialen Reform. Wie sehr aber dennoch bei geringer
Wohlhabenheit der auf die Wohnung verwendete Theil des Einkommens, trotz
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