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Von den wirklichen Bewegungen der Himmelskörper.
fläche von uns ein Urtheil bilden wollen, so gelingt uns dies allmählich da
durch, daß wir die Lage des zu bestimmenden Dinges zu andern zwischen
uns und ihm befindlichen Dingen in Beziehung setzen. Eine solche Beziehung
fehlt uns aber, wenn wir versuchen, die unermeßliche Entfernung der Gestirne
von uns abzuschätzen, und darum versetzen wir dieselben in gleiche Entfernung
von uns und glauben sie an der Fläche einer Kugel zu erblicken, in deren
Mittelpunkte die Erde steht. Auf diese Weise können wir also Erd- und
Himmelskugel als concentrische Kugeln ansehen, d. li. als Kugeln, die
denselben Mittelpunkt besitzen.
6. Veränderlichkeit des Zeniths. In der Erde ist die Anziehungs
kraft wirksam. Diese Kraft spannt unter andern die Schnur eines Lothes in
vertikaler Richtung, und sie ist auch die Ursache, daß wir Menschen in ge
wöhnlicher aufrechter Stellung senkrecht auf der Ebene unseres Horizontes
stehen, so daß gerade Linien, die wir vom Erdmittelpunkte durch unsern
Standpunkt gezogen denken, unsere Vertikalen, die Richtung unserer Stellung
bezeichnen. Die Verlängerung dieser Linien bis zum Himmel aber trifft unser
Zenith. Wenn wir nun auf der Erdoberfläche fortgehen, so nehmen wir dadurch,
daß wir auf einer gekrümmten Fläche fortschreiten, fortwährend, uns unbewußt,
eine andere Richtung im Raume an, und mithin muß auch unser Zenith immer
andere Punkte des ruhend zu denkenden Himmels treffen und im Sinne unserer
Bewegung am Himmel fortsclireiten (S. 79).
Wäre die Erde eine vollkommene Kugel, und darum jeder Meridian ein
vollkommener Kreis, so müßte offenbar, wenn wir in einem solchen Meridiane
genau gleiche Bogen durchschritten, unser Zenith um genau unter sich gleiche
Stücke am Himmel sich fortbewegen, oder, was dasselbe heißt: es müßten
zu gleichen Bogen des Erdmeridians
auch gleiche Winkel am Mittel
punkte der Erde, durch unsere Ver
tikalen gebildet, gehören.
Ist dagegen die Erde eine an den Polen
abgeplattete Kugel oder ein Ellipsoid, wie
sie es sein muß, wenn sie rotirt, und sind
darum die Meridiane keine Kreise, sondern
Ellipsen; so können die eben angegebenen
Verhältnisse unmöglich eintreten. Eine Ellipse
nämlich, Fig. 27, hat in verschiedenen Punk
ten eine verschiedene Krümmung; diese ist
am größten an den Enden des größten ihrer Durchmesser, der großen Achse,
in der Figur bei a und b, am geringsten aber an den Enden der kleinen
Achse, bei c und d. Reiset man nun auf einem elliptischen Erdmeridian
durch gleich große Bogen, so können diesen nicht auch gleich große Winkel
am Erdmittelpunkte und am Himmel nicht gleich große Zenithveränderungen
entsprechen. Am langsamsten muß das Zenith da fortschreiten, wo die Krüm