Die Perspective lasst sich aus drei wesentlich verschiedenen Gesichtspunkten betrachten, näm
lich 1) als eine Aufgabe der reinen Mathematik, 2) als Hülfswissenschaft der bildenden Kunst
und 3) als Iliilfsmittel zur Erfindung geometrischer Lehrsätze und Auflösung von Aufgaben der
ebnen und körperlichen Geometrie; nur in der ersten und dritten Beziehung fällt sie in das Ge
biet der Mathematik. — So wie nämlich Niemand auf den Namen eines Astronomen Anspruch
machen wird, wenn ihm nur die Keplerschen Gesetze bekannt sind, so wird der Mathematiker,
wenn er mit der Theorie der Perspective vertraut ist, dadurch noch nicht in den Stand gesetzt,
diese Wissenschaft auf jene Aufgaben, welche Malerei und Bildhauerkunst darbieten, zweckmä
ssig anzuw'enden; denn obgleich die Praxis niemals der Theorie entbehren kann, so reicht sie
doch auch niemals mit ihr allein aus. Jede praktische Aufgabe wird Bedingungen herbeiführen,
welche in der theoretischen nicht vorhanden sind, es ist daher von selbst klar, dass die Lösung
der letztem nicht der erstem genügen kann. Diesen Umstand scheinen sowohl die Künstler,
als die Mathematiker nicht gehörig zu beachten, wenn jene von den Anweisungen zur Perspec
tive mehr verlangen, als diese ihnen bieten können, und diese wiederum ihre theoretischen Ke
geln für ausreichend halten. Der Maler macht eine tinbillige Forderung, wenn er von einer
perspectivischen Zeichnung, welche der Mathematiker als solcher entwirft, ausser der mathema
tischen Richtigkeit noch andere Eigenschaften verlangt, seine Sache ist es vielmehr, die als
richtig erkannten Regeln so anzuwenden, dass die abgebildeten Gegenstände nicht auf eine un
natürliche Art ins Auge fallen.
Körperliche Gegenstände können auf zwiefache Weise abgebildet werden, einmal näm
lich im körperlichen Raume und dann auf einer krummen oder geraden Fläche. Im ersten Falle
giebt man dem Bilde entweder solche Dimensionen, welche mit denen des abgebildcten Gegen
standes in gleichem Verhältnisse stellen, oder man wählt statt dieser wahren Verhältnisse andere,
und stellt ihn nicht vollrund, sondern nur halberhaben dar, d. h. man verfertigt ein Basrelief.
Zu jener Gattung geboren alle Modelle von Gebäuden, Brucken, Maschinen u. s. w\, und zu
dieser unter andern die halberhabnen Arbeiten, welche man an Tempeln und andern Prachtge
bäuden angebracht findet; in beiden Fällen ist das Bild nach drei Dimensionen ausgedehnt. An
ders verhält sich die Sache, wenn ein körperlicher Gegenstand auf einer Fläche dargestellt wer
den soll. Hier hat das Bild offenbar eine Dimension weniger als der Gegenstand und die Auf
gabe besteht darin, diese fehlende Dimension für einen bestimmten Ort des Auges scheinbar
darzustellen. Es ist nicht meine Absicht, diesen sehr bekannten Theil der Perspective, dessen
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