V. Die Sonne
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Abb. 154. Photosphäre (c), Halbschattenwolke (b) und dunkler
Sonnenkern (a) nach der Auffassung vor ICO Jahren.
Ältere Anschauungen. Kirchhoff, Zöllner. Die Ansichten über die
physische Beschaffenheit der Sonne, wie sie bis zur Entdeckung der Spek
tralanalyse aufgestellt waren, konnten sich allein auf den äußeren Augen
schein stützen. So kommt es denn, daß man einerseits einen gewissen
Scharfsinn in der Aufstellung der Sonnentheorien dieser Art nicht verkennen
kann, daß letztere aber, unmittelbar nach Auffindung neuer Untersuchungsme
thoden oder neuer allgemeiner Gesetze, ganz in sich zusammenfallen mußten.
Irgendeine wissenschaftliche Bedeutung konnte den Sonnentheorien erst
nach Erfindung des Fernrohrs zukommen. Auf die Beobachtung der Flecken
gegründet, verbreitet sich die Anschauung von Dominicus Cassini (etwa
1671), daß die uns sicht
bare Sonnenscheibe ein
Lichtozean sei, der den
festen und dunklen
Kern der Sonne umge
be; gewaltsame Bewe
gungen, die in dieser
Lichthülle vor sich gin
gen, ließen uns von
Zeit zu Zeit die Berg
gipfel jenes lichtlosen Sonnenkörpers als die schwarzen Kerne der Sonnen
flecken erblicken.
Durch die Arbeiten von Wilson, Bode, W. Herschel, J. Herschel und
Arago entwickelte sich hieraus nun eine alle bis dahin bekannten Erschei
nungen der Sonnenoberfläche erklärende Theorie, deren Grundzüge in Hum
boldts Kosmos recht ausführlich dargestellt sind. Hiernach ist der Sonnen
körper selbst ganz dunkel, aber in einer größeren Entfernung von einer
leuchtenden Lichthülle umgeben. Durch von unten nach oben gerichtete Strö
mungen entstehen in dieser Lichthülle trichterförmige Öffnungen, wodurch
Teile des dunklen Sonnenkörpers als die schwarzen Kerne der Flecken sicht
bar werden (Abb. 154).
Die Begründung der Spektralanalyse durch Kirchhoff versetzte dieser
bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts allgemein angenommenen Theorie
den Todesstoß; es konnten fortan nur noch Ansichten zur Geltung gelangen,
die sich auf den Boden der spektralanalytischen Ergebnisse stellten und die
gleichzeitig dem Gesetze von der Erhaltung der Kraft Rechnung trugen.
Es ist selbstverständlich, daß derjenige, der zuerst die Ursache der dunk
len Linien im Sonnenspektrum erkannte, die zunächst auf rein theoretischer
Grundlage beruhende Entdeckung auch unmittelbar zur Erklärung der physi
schen Beschaffenheit der Sonne anwandte. Kirchhoff zog aus seiner Ent
deckung und dem Studium des Sonnenspektrums die Folgerungen für die
Konstitution der Sonne und schuf dadurch eine Grundlage für jede weitere
Sonnentheorie, die unerschütterlich ist, solange der Kirchhoff sehe Satz als
gültig betrachtet werden muß. Daß seine Theorie in ihren Einzelheiten heute
nicht mehr als stichhaltig betrachtet werden kann, liegt an der Tatsache, daß
gerade infolge der Kirchhoff sehen Entdeckung das Studium der Sonnen
physik einen enormen Aufschwung genommen und der Kreis der Beobach
tungen sich gewaltig erweitert hat.