Einleitung.
Die darstellende Geometrie, auch beschreibende
oder descriptive Geometrie genannt, ist jene Wissen
schaft, welche lehrt, einen wirklich vorhandenen oder auch
nur gedachten Gegenstand so auf einer ebenen Fläche durch
Zeichnung wiederzugeben, daß seine Lage zu anderen Gegen
ständen im Raume, seine Gestalt und Größe, auch die Maße
seiner einzelnen Teile direkt oder durch Konstruktion aus
dieser Zeichnung von dem Kundigen entnommen werden
können.
Um diese Aufgabe zu erfüllen, bedient sich die dar
stellende Geometrie eines Tafelsystems von zwei zu einander
rechtwinklig gerichteten ebenen Tafeln oder Grundebenen,
von welchen die eine wagrccht (nach der Wasserwage), die
andere senkrecht (nach dem Senkel) gerichtet ist.
Die wagrechte Tafel, auch horizontale Projek
tionsebene oder Grundrißebene genannt, wollen wir be
zeichnen als erste Tafel — kurz 1. T. — und können sie
uns in der Wirklichkeit durch ein ebenes Terrain, den Fuß
boden eines Zimmers, eine Tischplatte oder als ein auf einem
Tische liegendes Reißbrett gegeben denken.
Die senkrechte Tafel, auch vertikale Projektions
ebene oder Aufrißebene genannt, wollen wir zweite
Tafel — kurz 2. T. — nennen und sie uns als eine Mauer,
Wand oder senkrecht stehendes Reißbrett vorstellen.
Die gerade Linie, an welcher die Tafeln Zusammen
stößen, heißt Kante, Grundschnitt oder Achse — kurz
A. — des Tafelsystems.
Der darzustellende Körper wird nun in den Raum
zwischen den beiden Tafeln gebracht, schwebt also über der
1. T. oder sitzt auf ihr auf und befindet sich vor der 2. T.
oder steht an ihr an.
Eine Beziehung des Körpers zu den Tafeln — kurz
T. T. — wird durch gerade Linien, welche von allen her
vorragenden Punkten desselben senkrecht auf beide T.T. ge
fällt werden, hergestellt, so daß jedem einzelnen dieser Punkte
zwei solche Senkrechte oder Lote entsprechen, eines zur
1. T., das andere zur 2. T.
Dieses Lotfällen auf die beiden T.T. nennt man
«Projizieren» und genau das «rechtwinklige Proji
zieren», da auch noch von einem schiefwinkligen und cen
tralen Projizieren später die Rede sein wird. Bei Herstellung
von technischen Zeichnungen ist das rechtwinklige Projizieren
am meisten gebräuchlich.
C. Alberti, Darstellende Geometrie.
Diese Senkrechten führen die Bezeichnungen: proji
zierende Linien, Projektionsstrahlen oder Lote —
kurz L. L. —. Obwohl letzterer Ausdruck für die 1. T.
streng richtig ist, da diese Linien mittelst Senkel oder Lot
hergestcllt werden können, so paßt er eigentlich nicht für
die 2. T., da hier diese Linien in Wirklichkeit wagrecht
liegen. Wir wollen ihn indessen auch hier seiner Kürze
wegen beibehalten und den Ausdruck: «senkrecht stehen»
und «Lot» — kurz L. — im allgemeinen Sinne dann ge
brauchen, wenn nur eine Gerade oder Fläche zu anderen
Gebilden rechtwinklig gerichtet ist, auch ohne daß sie immer
die Richtung des Senkels hat.
Verbindet man nun die Fußpunkte jener Lote, welche
in einer Tafel liegen, mittelst Linien in derselben Reihen
folge, wie die entsprechenden Punkte am Körper verbunden
sind, so entsteht in jeder der beiden Tafeln ein Bild des
Körpers: eine Projektion — kurz P. —.
Das Bild in der 1. T. wird bezeichnet als: erste Pro
jektion — kurz 1. P. — oder auch als 1. Riß oder Grund
riß und entspricht meistens dem Anblick, welchen der
Körper bei dem Betrachten von oben herunter bietet, wes
halb man es auch: Ansicht von oben, Aufsicht, Drauf
sicht oder Oberansicht nennt.
Zuweilen wird die 1. P. auch so gezeichnet, daß sie die
Ansicht des Körpers von unten nach oben gesehen darstellt,
also eine Unteransicht oder Ansicht nach oben ist.
Das Bild in der 2. T. heißt: zweite Projektion —
kurz 2. P. —, 2. Riß, auch Aufriß oder Ansicht und
zeigt den Körper von vornen gesehen.
Es ist zu beachten, daß der Standort des Beschauers,
je nachdem er eine Horizontal- oder Vertikalprojektion vor
sich hat, ein verschiedener ist. Bei der Horizontalprojektion
hat derselbe den Körper unter sich und unter dem Körper
die 1. T., bei der Vertikalprojektion ist aber der Körper
vor dem Beschauer und hinter dem Körper die 2. T. Der
Beschauer wechselt also in beiden Fällen seinen Standort.
Dieser muß unendlich weit von jeder Tafel entfernt an
genommen sein, da sonst die parallelen Projektionslote dem
Beschauer nicht als Punkte erscheinen würden.
Diese beiden so erhaltenen Bilder genügen im allgemeinen
den Anforderungen, welche an eine Zeichnung der dar
stellenden Geometrie gestellt werden. Oft aber müssen zur
Erhöhung der Übersichtlichkeit noch weitere Ansichten, welche
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