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Stabilitäts-Problem.
ger als einen ganzen Tag beträgt. Ja,
die christliche Kirche, eine göttliche Stif
tung zur Beseligung aller menschlichen
Dinge für Zeit und Ewigkeit, welche
auch die Pforten der Hölle nicht werden
überwältigen können, darf es von der
Wissenschaft gewissermaßen als eine schul
dige Pflicht fordern, der gesammten
christlichen Welt mit größter Sorgfalt
den gegenwärtigen Zustand aller unserer
Kenntnisse des Sonnen- und Mondlauss
vor die Augen zu legen, um danach ei
nen unveränderlichen Canon der Schalt
jahre und Osterfeste auf eine möglichst
entfernte Zukunft zu entwerfen, welcher
den Vortheil der möglichsten Einfachheit
und des möglichst engen Anschließens an
die bisherige geheiligte Observanz mit
dem Vortheil des möglichst genauen An
schlusses an den Himmel vereinigt. So
bedenken wir einmal: Eine cyklische
Zeitrechnung setzt voraus, daß die mitt
leren Bewegungen der Sonne und des
Mondes unter allen wechselnden Ungleich
heiten oder sogenannten Störungen
sich gleich bleiben, daß die Störungen
sich unaufhörlich unter einander compen-
siren, und die Weltkörper dadurch in ei
ner gewissen ehrerbietigen Entfernung von
einander erhalten und verhindert werden,
durch ihre zu große Nähe einander zu
schaden, oder wohl gar gewaltsam zu
sammenzustoßen und sich gegenseitig zu
zertrümmern. Ist diese Voraussetzung
nun etwa eine blinde? Wie, wenn sie
es wäre? Würden da nicht die mensch
lichen Geschäfte, und namentlich die öko
nomischen, an deren Regelmäßigkeit wir
nun einmal so gewöhnt sind, daß wir
fast darauf trotzen und meinen, sie ver
stehe sich von selbst, endlich in die größte
Unordnung gerathen? So laßt uns denn
diejenigen Fragen in einen kurzen Ueber-
blick zusammenstellen, welche man, als
eigentliche Lebensfragen unseres Son
nensystems , vorzugsweise mit dem Na
men des Stabilitäts-Problems
bezeichnet. Wir werden dabei die Ord
nung der Säcular-Ungleichheiten der ein
zelnen Elemente der Planetenbahnen zum
Grunde legen.
1) Wenn die Linie der Apsiden
jeder Planetenbahn sich jetzt nur mit gro
ßer Langsamkeit zwischen den Fixsternen
fortbewegt, wird diese Bewegung in alle
Ewigkeit mit derselben Langsamkeit vor
sich gehen? Oder wird vielmehr eine Zeit
kommen, wo z. B. die Apsidenlinie der
Erdbahn innerhalb eines Jahres um
einen sehr beträchtlichen Winkel fortrückt,
so daß man diese Bewegung nicht mehr
mit dem Namen einer Säcular-Ungleich-
heit bezeichnen kann, — daß, wie von
jetzt an noch mehrere Jahrhunderte hin
durch, die größte Nähe der Erde bei der
Sonne allemal in den Winter der
nördlichen Halbkugel fällt, dereinst inner
halb eines einzigen Jahres die größte
Nähe der Erde bei der Sonne zweimal
eintreten wird, einmal in unserem Som
mer und einmal in unserem Winter?
Das würde eine merklich andere Verthei-
lung der Jahreszeiten geben als jetzt, da
schon jetzt auf der nördlichen Halbkugel
Frühling und Sommer zusammen 8 Tage
länger währen, als Herbst und Winter,
und auf der südlichen Halbkugel umge
kehrt. Doch das wäre nur die g e r i n g st e
Unordnung der irdischen Haushaltung, so
lange die Ercentricität der Erdbahn so
unbedeutend bleibt als jetzt, wo die größte
Entfernung der Erde von der Sonne die
kleinste kaum um den 30sten Theil über
trifft. Wichtiger ist daher
2) die Frage hinsichtlich der Ercen
tricität. Wenn dieselbe bei manchen
Planetenbahnen ab- und bei den übrigen
zunimmt, wird diese Zunahme einst alle
Grenzen überschreiten? Werden ans diese
Art die Planeten in einen kometari
schen Zustand übergehen? Ja, wird die
Ellipse sich endlich völlig in eine Para
bel oder wohl gar in eine Hyperbel
verwandeln, und dadurch der Planet der
Sonne entrissen und in den unendlichen
Raum hinaus nach anderen Fixsternen
zu geschleudert werden? Steht dieses
Schicksal insbesondere unserer Erde
bevor? Denn es ist keineswegs sich selbst
widersprechend, sondern scheint vielmehr
eine Analogie der Erfahrung für sich zu
haben, da wir ja wissen, daß der be
rühmte Komet von 1770 während der
wenigen Wochen seiner damaligen Sicht
barkeit nach Lexell's untrügllcher Rech
nung eine Ellipse um die Sonne mit
ö'/rjähriger Umlaufszeit beschrieb, und
dennoch weder vor -, noch nachher gese
hen wurde, und dadurch den Astronomen
ein Räthsel aufgab, das erst durch La-