665
Gauss an Olbers. Göttingen, 1817 Mitte August.
Geneigt, wie ich von jeher gewesen hin. jeden neuen originellen
oder genialen Gedanken mit Liebe aufzunehmen,*) wurde ich von der
wirklich neuen Idee in Mossotti’s Aufsatz bei meiner ersten Lektüre
frappirt, nämlich von der sehr genähert wahren linearen Gleichung
zwischen c — C, c — C', c'—C". Man kann dieselbe auch so aus
sprechen: „Errichtet man auf der Ebene der Planetenbahn und der
Erdbahn aus der Sonne 8 zwei Perpendikel resp. Sh, SH, die sich wie
Vp: VP verhalten, so liegt hH sehr nahe in einer durch drei Beobb.
gegebenen Ebene.*' Die Schönheit dieses Satzes bewog mich zu dem
Urtheile, dass es immer der Mühe werth sei, eine Methode zu ent
wickeln, wobei dieser Satz zur Bestimmung der Bahn benutzt würde,
wenngleich diese Methode nur ihrer selbst willen die Entwickelung
verdiente, nicht aber zur wirklichen Anwendung zu empfehlen wäre.
Ich bin nun nachher in dieser Ansicht vollkommen bestärkt. Da
Mossotti sich selbst des Gebrauches der Sagitte beraubt, und also ge-
nöthigt wird, eine vierte Beob. zu Hülfe zu nehmen, so beruht, genau
genommen, seine Auflösung eigentlich auf den Grössen der dritten Ord
nung, und dies ist Grund genug, sie in der Praxis ganz zu verwerfen,
da die Beobachtungsfehler die Resultate ganz entstellen können. Sonst
halte ich die Auflösung für theoretisch richtig, d. i. wenn die Beobb.
absolut genau vorausgesetzt werden, und die Zwischenzeiten unendlich
klein sind, so giebt sie absolut richtige Resultate. Uebrigens gestehe
ich, dass ich auch, abgesehen von dem ungeheuren Einfluss der Be
obachtungsfehler, es für des Geometers unwürdig halte, wenn der
Astronom ihm drei vollständige Beobb. geliefert hat, also so viel, wie
er zur Auflösung bedarf, bei diesem erst noch eine vierte Beob. er
betteln zu müssen, bloss um nicht-linearischen Gleichungen auszuweichen.
Wer einige Erfahrung im Kalkül hat, weiss, dass für die numerische
Rechnung höhere Gleichungen (wenn sie nur möglichst einfach sind)
sich ebenso leicht und leichter berechnen lassen, als linearische, wenn
diese so zusammengesetzt sind. — Praktischen Werth kann ich also
Mossotti’s Methode nicht zugestehen. Zu den Grössen der dritten
Ordnung soll man nur dann seine Zuflucht nehmen, wenn es unvermeid
lich ist, also bei kleinen Neigungen der Bahn (da ist Mossotti s Methode
ganz unbrauchbar). Meine Methode aus vier Beobb. im 2. Abschn. des
2. Buches setzt natürlich auch die Grössen der dritten Ordnung voraus,
allein da diese Methode nicht wie Mossotti’s eine Annäherung, sondern
absolut genau ist, so erlaubt sie beträchtliche Zwischenzeiten. Ich
*) Ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, dass die neuliche wunderliche Re
cension von Legendre's Exercices de calcul Intégral in unsern G. A. nicht von mir
ist, da dieses Werk so manches der oben erwähnten Art enthält.