1. Kapitel: Einleitung: Der Mutzen der Theorie.
In der folgenden Reihe von Vorlesungen werde ich die Ehre haben,
Ihnen einen Überblick über die Entwicklung der Theorie in der Chemie
zu geben.
Um also mit dem Anfang anzufangen, müssen wir uns fragen: „Was
ist die charakteristische Eigenschaft einer Theorie?“ Die meisten meinen:
„Theorie ist etwas unpraktisches“. Nichts kann weniger richtig sein. Das
gerade Gegenteil ist wahr. Boltzmann sagt: „Die Theorie ist das denkbar
praktischste, die Quintessenz der Praxis.“ Als Beispiel führt er die Theorie
der Elektrizitätsleitung an, die zum größten Teil im Ohmschen Gesetz
enthalten ist. Ehe Ohm dies Gesetz, das er aus theoretischen Betrachtungen
ableitete, formuliert hatte, war eine endlose Anzahl Experimente angestellt
worden, um den Zusammenhang zwischen der Stärke eines Stromes und der
Anzahl Voltascher Zellen, die ihn hervorbrachten, zu finden. Die Stromstärke
wurde dabei nach der Helligkeit der Funken bei der Unterbrechung, oder
nach dem Ausschlag eines Magneten geschätzt. Indessen hatten die Zellen
keinen konstanten Widerstand und ihre elektromotorische Kraft änderte sich
auch mit der Zeit, so daß es sehr schwer war, auf rein experimentellem
Wege das Gesetz der gesuchten Beziehung zu finden.
Nun wendete Ohm 1 ) Deduktionen an, die er hauptsächlich Fouriers
Resultaten in den klassischen Untersuchungen über die Wärmeleitung ent
nahm. Genau wie der Wärmestrom durch ein Parallelepipedon, dessen Enden
bei den konstanten Temperaturen T 0 und T x gehalten werden, dem Quer
schnitt des Parallelepipedons proportional und seiner Länge umgekehrt pro
portional ist, ferner proportional ist der Temperaturdifferenz (T t — T 0 ) und
einer Konstanten, die spezifische Wärmeleitfähigkeit heißt und dem Stoff
eigentümlich ist, aus dem das Parallelepipedon besteht: Genau in derselben
Weise sollte der Elektrizitätsstrom durch ein Parallelepipedon (z. B. einen
Zylinder oder einen Draht) dem Querschnitt proportional und der Länge
umgekehrt proportional sein, ferner proportional der elektrischen Poten
tialdifferenz der Endflächen und einer Konstanten, die die spezifische elek
trische Leitfähigkeit heißt und dem Stoff eigentümlich ist. So kam Ohm
D Vgl. Ohm, Die galvanische Kette, Neudruck Leipzig u. Wien 1887,
Toeplitz u. Deuticke.