sieht jedermann, und darum kann nicht oft genug betont werden, wie sehr
die Atomhypothese der Chemie anderweitig schadet.“ Die Atomhypothese
soll „ein gewaltiges Hindernis sein, welches unbedingt beseitigt werden
muß, wenn ein Fortschritt ermöglicht werden soll“ im Studium „der Gesetze,
welche die chemische Veränderlichkeit der Phasen begrenzen“. Soviel man
aber ersehen kann, hat die Anwendung der Atomhypothese nicht die Ent
wicklung der Phasenlehre durch Roozeboom * 2 ) und seine Schüler be
einträchtigt.
Leichter verständlich ist der Ausspruch von Le Chatelier 3 ). „Die
Chemiker wurden durch die Einfachheit der theoretischen Ansichten
von Proust verleitet, ohne Diskussion anzunehmen, daß die chemischen
Verbindungen unveränderliche Zusammensetzung haben. Gewissermaßen
wurde dadurch ein sehr rapider Fortschritt unserer chemischen Kenntnisse
hervorgerufen, denn das Gesetz von Proust trifft in einer großen Anzahl
Fälle zu.“ „Dagegen wurden unsere Kenntnisse auf einem Nachbargebiet
sehr verlangsamt; die Mischungen nach veränderlichen Proportionen, d. h.
die Lösungen, die chemischen Gleichgewichtssysteme, von welchen Ber-
thollet eine große Zahl studiert hatte, wurden während sechzig Jahre bei
seite gelassen.“
Dies mag nun richtig gewesen sein, jetzt ist kein Grund mehr vor
handen zu behaupten, daß die Theorie der Lösungen durch die Atomhypothese
zurückgehalten wird. Daß die Bearbeitung der Theorie der Lösungen und
der chemischen Gleichgewichte nicht schon vor hundert Jahren ihre Blüte
zeit erreichte, sondern erst vor etwa zwanzig Jahren, beruht ohne Zweifel
darauf, daß sie eine nicht unbedeutende Entwicklung der Thermodynamik
und der Elektrizitätslehre voraussetzte, welche erst am Ende des vorigen
Jahrhunderts erreicht war.
Es ist übrigens für unsere außerordentlich kritische Zeit charakte
ristisch, daß die Einwände gegen die atomistische Hypothese gerade zu
einer Zeit hervorgetreten sind, da dieselbe ihre größten Triumphe auf dem
Gebiete der Physik feiert (vgl. Kap. 8 und 9) 4 ). Auf alle Fälle kann man ja
nur dankbar sein, daß durch die genannte Diskussion unsere Ansichten noch
mehr geklärt und befestigt wurden.
In seiner Faraday-Vorlesung versucht Ostwald auch das Gesetz von
den multiplen Proportionen und von den in verschiedenen Verbindungen
0 Wald, Zeitschrift f. physikal. Chemie 43 , 310. 1908.
2 ) Bakhuis-Roozeboom: Die heterogenen Gleichgewichte vom Stand
punkte der Phascnlelire, Braunschweig 1901 und 1904.
3 ) Le Chatelier; 1. c. S. 400.
4 ) Eine Übersicht über die gegen Wald angeführten Gründe hat 0. de
Vries geliefert (Zeitsehr. f. physikal. Ch. 62, 308, 1908).