und wurde deshalb auch auf die anorganische übertragen. Wir wissen jetzt,
daß sie unhaltbar ist, aber es ist lehrreich zu sehen, wie lange sie mit
Hilfe spezieller Hypothesen, die man leider nicht zu prüfen versuchte,
aufrecht erhalten und als Erfahrungstatsache ausgegeben wurde. Das Be
streben, die Formeln der chemischen Verbindungen in das Schema der
Kekuleschen Valenzzahlen zu bringen, verleitete zu einer „Formelmalerei“
(Kolbes Ausdruck), die uns jetzt vielfach wie Spielerei anmutet, seinerzeit
aber als wichtige theoretische Entwicklung gepriesen wurde.
Eine der ersten Schwierigkeiten war das Verhalten des Kohlenoxydes,
dem auf Grund der angenommenen Atomgewichte und nach Avogadros
Gesetz die Formel CO zuerteilt werden muß. Wenn C vier, 0 dagegen nur
zwei Valenzen besitzt, so müssen zwei Valenzen von C „ungesättigt“ sein.
Man könnte sich dies so vorstellen, daß diese zwei Valenzen einander binden.
Wenn man annimmt, daß die Valenzen auf elektrischen Ladungen beruhen,
und wenn man Sauerstoff nach Berzelius als negativ geladen ansieht, so
hat das Sauerstoffatom zwei negative Elementarladungen, die durch zwei
positive, auf dem Kohlenstoffatom befindliche Elementarladungen gebunden
sind. Zwei weitere Elementarladungen befinden sich noch auf dem Kohlen
stof fatom, die eine positiv, die andere negativ, und neutralisieren einander.
Wir haben oben die Helmholtzsche Ansicht erwähnt, daß Verbindungen
mit einer paaren Anzahl von ungesättigten Valenzen gleich viele positive
und negative, sich gegenseitig bindende Elementarladungen besitzen.
Da dasselbe Kohlenstoffatom eine positive und eine negative Elementar
ladung trägt, so müssen sie an verschiedenen Stellen des Atoms lokalisiert
und von einander isoliert sein. Nach dieser Betrachtungsweise müssen also
die Valenzen an bestimmte Punkte des körperlichen Atoms gebunden sein,
und die anderen Atome oder Atomkomplexe, die mittels der Valenzladungen
festgehalten werden, müssen in bestimmter Weise zum bindenden Zentral
atom orientiert sein. Die Lehre von der Orientierung der Atome im Raume,
die Stereochemie, hat sich in vieler Beziehung fruchtbar erwiesen. Ihr Be
ginn waren van’tHoffs 1 ) und Le Bels * 2 ) Erklärungsversuche der optischen
Isomerien. Dabei handelt es sich um zwei gleich zusammengesetzte, in jeder
anderen Beziehung gleiche Verbindungen, die sich nur durch die Drehung
der Polarisationsebene des Lichtes unterscheiden. 3 ) Sie üben numerisch
1) Van’t Hoff, Voorstel tot uitbreiding der struktuur-formules in de
Ruimte. Sept. 1874.
Vgl. Van’t Hoff, die Lagerung der Atome im Raume. 2. Aufl. Braun
schweig 1894.
2 ) Le Bel, Bull d. 1. Soc chim. Paris, Nov. 1874.
3 ) Auch die Absorption von zirkular-polarisiertem Licht kann für die
beiden Isomeren verschieden sein (Cotton, Ann. chim. phvs. (7) 8, 373, 1896).