Full text: A (1. Band)

  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
  
1015 Armuth 
in erſter Linie die Anorduung geeigneter Maßregeln, um der Ausbreitung 
des Uebels der A. vorzubeugen; fie ſoll einerſeits dafür ſorgen, daß dort, 
wo die Unterſtüßung Nothleidender von der freiwilligen nachbarlichen Für- 
ſorge nicht zu erwarten ſteht, geſebliche Organe zur Löſung dieſer Aufgabe 
ins Leben treten, andererſeits ſoll ſie darauf achten, daß die völlig frei- 
willige Thätigkeit, falls ſie die Grenzen der reinen Privatwohlthätigkeit 
überſchreitet, nicht eine Verſchlimmerung des Uebels anbahñe; endlich hat 
die geſeßgebende Gewalt auch in den Ländern, wo noch kirhliche Armen- 
pflege vorwaltet, dieſe innerhalb beſtimmter Grenzen zu organiſiren. Jn 
ähnlicher Weiſe. würde die Staatsgewalt auch bei der Gründung ſogenann- 
ter Armenkolonien, wie ſie zuweilen (z. B. dur<h Voght in Flottbe> 
bei Hamburg, durch General van der Boſch zu Frederiksoord in Holland) 
verſucht ſind, niht ohne Betheiligung bleiben dürfen; es haben ſich jedoch 
dergleichen Unternehmungen, Arme in abgeſonderte Landſtriche zu ver- 
jegen ır. dort mit Feldbau zu beſchäftigen, aus verſchiedenen Gründen als 
ein auf die Dauer erfolgloſes Mittel zur Bekämpfung des Pauperismus 
herausgeſtellt. — Weiterhin hat die Staatsgewalt auf geſeßlihem Wege 
auch die Aufbringung der Mittel für das Armenweſen zu regeln. 
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Nr. 814. Die Armenherberge „„Zu den Hühnerfedern““ bei Peking. 
Abgeſehen von den Erträgen ſtiftungsmäßiger Fonds, die in manchen 
Ländern jehr reichlich fließen, wird der weitere Bedarf bald wie in Eng- 
land durch eine beſtimmte Armenſteuer, bald wie in Bayern aus dem all- 
gemeinen Einnahme-Etat, bald wie in Bremen u. anderen großen Städten 
dur eine halbfreie Beſteuerung, bald wie in Lübe> Hamburg u. in den 
Niederlanden mit Hülfe ganz freiwilliger Beſteuerung gede>t, u. ver- 
ſchiedene größere Staaten, wie Preußen, Sachſen, Belgien, Frankreich 2c. 
verbinden mehrere der erwähnten Hülfsquellen, um die Armenlaſt aufzu- 
bringen. Wo troß ſolcher Einnahmen die Kräfte der Gemeinden zur Be- 
wältigung des Elends doh nicht ausreichen, od. wo im gegebenen Falle 
die gejegliche Verpflichtung eines Ortsverbandes zweifelhaft ift, treten 
gewöhnlich in zweiter Linie die weiteren, jogenannten Landarmenverbände 
ein, welche bald von einzelnen großen Städten, bald von ganzen Pro- 
vinzen, bald, wie in Oſtpreußen, von den einzelnen Kreiſen gebildet wer- 
den. Sehr anerkennenswerth zeigt fich in neuerer Zeit die Wirkſamkeit 
der Landarmenverbände im Königreich Sachſen, welche jeßt mehr unab- 
hängig von Einmiſchungen der Staatsbehörden, auch theilweiſe die Armen- 
zucht verwalten u. eine Reihe heilſamer Zwangsarbeitshäuſer (z. B. 
in Strehla, Möern 2c.) organiſirt haben, deren ſtrenge Disziplin zum 
Theil an die engliſchen Werkhäuſer erinnert. Jn Frankreich u. Belgien 
treten für die Gemeinden nachhelfend auch die ſog. Departements- 
kaſſen ein, welche dort in erſter Linie die Koſten der Jrrenverſorgung 
ſowie der Verpflégung heimatloſer Kinder, Findlinge 2c. zu tragen haben. 
Die eigentliche Praxis der Armenpflege, welche meift in der Hand 
eigens beſtellter (bald beſoldeter, bald unbefoldeter) Kommiſſionen 
(Armendeputationen, Armenpflegſchaftsräthe, Armendiakonien, Armen- 
bureaus, Administrations 2c.) liegt, beſchäftigt fich nicht nur damit, 
der Verarmung der Einzelnen vorzubeugen, ſondern auch ſhon Verarmte 
zu unterftügen, endlich die Unterftügten jelbft zu beauffichtigen. Um dieje 
Zwecke thunlichſt zu erreichen, ift vor Allem darauf zu achten, daß arbeitg- 
fähige A. zur Thätig“eit u. zu möglichſt eigenem Erwerbe der unentbehr- 
lichen Leber sbedürfniſ) e angehalten, hierzu aber auch mit den erforderlichen 
Mitteln verjchen werd 1, u. daß als Gabe den Armen nur das ichlechter- 
  
  
Armut 1016 
dings Unentbehrliche gewährt werde. Es iſt ſchon oben darauf hingewieſen, 
welche Anerkennung in dieſem Sinne dem erfolgreichen Wirken der Schweizer 
Armenfreunde gebührt; aber auch in unſerem Vaterlande finden fich (ganz 
abgeſehen von dem ſtillen Wirken zahlreicher Vereine, religiöſer Gemein- 
ſchaften, Freimaurer-Logen uU. |. w.) an verſchiedenen Orten, namentlich 
in den Hauptſtädten (wie Berlin, Leipzig u. ſ. w.), wohlorganiſirte Be- 
ſtrebungen in jenem Geiſte, welche in ihrem nächſten Umkreiſe großen 
Segen verbreiten u. auf die ſittliche Kraft der Bevölkerung hebend ein- 
wirken. Eine wahrhaft muſtergültige Bedeutung hat in dieſem Sinne 
die praktiſche Armenpflege in der Fabrikſtadt Elberfeld erlangt, deren 
Vorzug in dem Aufgebot einer großen Anzahl freiwilliger Kräfte für 
die außerhalb der geſchloſſenen Anſtalten (Armenhaus, Krankenhaus, 
Waiſenhaus, Obdach für Wohnungsloſe 2c.) zu betreibende Armenfürſorge 
beteht. Der eigentliche Charakter diefer Hausarmenpflege liegt in dem 
individualiſirenden Verfahren, welches je nach den beſonderen Umſtänden u. 
perſönl. Verhältniſſen nicht nur entſprechende Hülfe leiſtet, ſondern auh 
in jedem einzelnen Falle dem Urſprung des Elends auf den Grund zu kom- 
men u. ihm gründlich abzuhelfen. ſtrebt. Allerdings erfordert ein ſolches 
, Verfahren eine reihlichere Anwendung von Verſtand wie 
Theilnahme, eripart aber hierdurch nicht nur viele Geld- 
koſten, ſondern trägt auch, was weit wichtiger iſt, dazu 
bei, daß die Hülfe des Augenblid3 nicht etwa, wie bei 
der plumpen na>ten Almoſenwirthſchaft, die Ausſichten 
in die Zukunft verdunkelt. Hunger u. Durſt werden ge- 
ſtillt, Blößen bede>t, ohne daß die unſhäßbare Fähig- 
keit des Sichſelbſtaufrichtens in dem Geſunkenen gekni>t 
würde. Jn dieſer Weiſe wird die Noth arbeitsfähiger 
Leute nicht als ein unheilbares Uebel behandelt bei 
welchem es nur darauf ankäme, die Leidenden von Tag 
zu Tag hinzuhalten, ſondern ſie gilt vielmehr als ein 
Ausnahmezuſtand, deſſen Heilung forgfältig auf die 
Wiederkehr der Regel, d. h. des Selbſterhaltens zu be- 
rechnen iſt. — AS entiprechende Unterftüßungsmit- 
tel werden außer der Verabreichung von Almoſen, die 
jedoch nur im äußerſten Nothfall u. beſſer in Naturalien 
als in Geldſpenden gewährt werden, hauptſächlich das 
Verſchaffen von Unterkommen, von Brennmaterial, ferner 
öffentliche Speiſehäuſer (Volksküchen, Suppenanſtalten), 
weiterhin Arbeitsnachweifung, Krankenpflege, Kinder- 
erziehung, endlich in gewiſſen Fällen die gänzliche Ver- 
ſorgung angeſehen. Beim Mangel des nöthigen Obdachs 
hat die Armenbehörde entweder für das Ermiethen einer 
Wohnung oder für das Unterbringen im Armenhauſe 
Sorge zu tragen. Der Obdachloſe, welcher fich ſonſt zu ernähren ver- 
mag, hat gewöhnlich den Betrag des Miethzinſes an die Armenkaſſe zu 
entrichten oder für deren Rechnung abzuarbeiten. Mit Rückſicht auf die 
ſteigenden Miethpreiſe hat man in neuerer Zeit, um der augenblid- 
lichen Noth Obdachloſer abzuhelfen, in größeren Städten, wie in Lon- 
don, Berlin u. j. mw. Öffentliche Armenherbergen (au Aſylhäuſer 
genannt) errichtet, in welchen, joweit natürlich der Raum reiht, Alle 
die augenblicklich einer Unterkunft entbehren, wenigſtens für die Nacht 
eine Zufluchtsſtätte finden. Dieſe Möglichkeit hat ſhon Manchen, der 
ſonſt vielleicht verzweifelt zeitweiliger Noth zum Opfer gefallen wäre, vor 
großem Unglü> bewahrt, u. wir finden jenes wohlthätigſte aller Unter- 
ſtüßungsmittel hoher A. ſelbſt in ſolchen Ländern, die ſonſt jeder weiteren 
Armenfürſorge entbehren. Eines der intereſſanteren Beiſpiele zeigt uns 
im fernen Aſien die ſogenannte „Herberge zu den Hühnerfedern“ 
vor Pekings Thoren, ein roher Holzſchuppen, deſſen harten Fußboden eine 
hohe Lage Hühnerfedern bede>t. Ohne Unterſchied des Alters od. Geſchlech- 
tes ſindet dort jeder Arme des Abends nach der Feierglode ſein Bläschen 
auf weichen Dumnenlager, wo er fich fein Net zurecht macht, jo gut er 
kann. Nachdem durch Polizeiſoldaten das Bettelgeſindel im wirren Durch- 
einander hineingetrieben iſt, wird eine den ganzen Bau überſpannende Filz- 
decke bis kurz über die Schläfer herabgelafjen, die troß der Hite u. ftidfen- 
den Ausdünftung Doch gern den Schuß gegen Wind u. Regen genießen. 
Wir kehren nach dieſer Abſchweifung wieder zur den Aufgaben der euro: 
päiſchen Armenpflege zurü>. Zur beſſeren Ernährung der Armen hat 
man in vielen Orten nicht nur Suppenanſtalten, ſondern auch öffentliche 
Speiſchäuſer (ſtädtiſhe Speiſeanſtalten) errichtet, die zu möglichſt 
billigem Preiſe Unbemittelten eine warme u. kräftige Nahrung darreichen; 
einen gleichen Zwe> verfolgen die ſeit Kurzem von Frau Lina Morgen: 
ſtern begründeten Volksküchen in Berlin. Aus älterer Zeit find die men: 
ſchenfreundlichen Beſtrebungen des Amerikaners Rumford in München, 
des bekannten Erfinders der nah ihm benannten Armenſuppe hier zu 
erwähnen. Jn neueſter Zeit gewährt man auch armen Familien, namentlich 
wenn ſie zahlreiche Kinder zu ernähren haben, dadurch eine Erleichterung, 
  
C ERR LR nn EER 
  
  
 
	        
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