die reichen und mächtigen Bürgerstädte in den Niederlanden des
fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts, im Holland des sieb-
zehnten Jahrhunderts, liefert das Venedig der Renaissance, das
Nürnberg Dürers und das Paris des neunzehnten Jahrhunderts.
Jedes Gesamtkunstwerk dagegen hat etwas Theokratisches. In diesem
Sinn war die Gotik der Baustil einer vom Volksgefühl heftig empor-
gerissenen Kirche. Alle waren in irgendeiner Form fanatisiert: die
Stadtbewohner, die Priester, die Fürsten und die Proletarier. Eine
ganze Menschheit baute an den riesenhaften Turmgedanken der
Gotik, als die größte Entdeckung gelang, derer der Mensch fähig
ist: die Entdeckung seiner selbst. Das Sollen wurde zum Wollen —
und beides war ein Können.
Darum konnte die Gotik nicht eine beruhigende, zum Genuß auf-
fordernde, sie konnte nicht eine klassisch schöne Kunst werden. Der
gotische Baustil hat vielmehr etwas von einem genial konzipierten
Sensationsstil. In gewissen Zügen ist seinem Kolossaldrang etwas
Amerikanisches eigen — freilich ins Kreative gesteigert. Vergleicht
man die Gotik mit der Romanik, wozu man in Deutschland ja auf
Schritt und Tritt genötigt wird, so läßt sich sagen: die Romanik
fühlte naiv organisch, die Gotik aber dachte spekulativ das Orga-
nische. Alles sollte anders sein, die Idee ließ das historisch Ge-
wordene nicht gelten, sie wollte durch den Geist das absolut Neue
erschaffen. Die Romanik hatte Ehrfurcht gehabt; die Gotik stellte
sie dar. Dieses aber ging oft nicht ab, ohne daß die Gotiker ihr
Genie bengalisch beleuchteten. Die Frömmigkeit, die am Werk war,
hatte wahre Leidenschaft, doch war ‚sie auch ruhmredig, ja groß-
mannssüchtig und demonstrierend. Sie sagte im Ton der Mystiker:
ich kann nicht sein ohne Gott, aber Gott kann auch nicht sein ohne
mich! Sie lehnte sich auf und fühlte zugleich Grauen. Alles in allem:
der Prozeß der Bewußtwerdung einer ganzen Menschheit hatte be-
gonnen, mit allen seinen Ängsten und Geheimnissen. Damit war
eine Fieberatmosphäre geschaffen. War die Staatsidee der Romanik
in all ihrer Metaphysik auf Möglichkeiten fest gegründet, weil sie
auf Adel, Priestertum und Bauerntum, auf der Bedeutung des Bo-
dens, auf der Herrschaft der Besten, auf dem Glauben an eine gött-
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