VOM BERUF DES BAUMEISTERS
Ds erste Mensch, der es unternahm, eine Gestalt zu zeichnen
oder sie plastisch nachzubilden, sei es, um ein Gerät zu ver-
zieren oder um dunkle Mächte zu beschwören, fühlte sich für eine kur-
ze Spanne frei vom Zwange der Notdurft. Er saß müßig und dachte
über die Erscheinung. Die Fähigkeit zu malen oder zu schnitzen
konnte nur ausgeübt werden, wenn die Existenz gesichert war.
Zum Bauen jedoch gelangte der Mensch durch Bemühungen um
seine Existenz. Als er die Decke einer Höhle stützte oder Baum-
stämme befestigte und über das Stangengerüst Zweige, Rinde oder
Tierfelle warf, entstanden unter der roh zupackenden Faust em-
bryonische Architekturformen; und als die Erfahrung ihn lehrte,
anspruchsvollere Wohnbedürfnisse zu befriedigen, entwickelten sich
diese Grundformen weiter, ohne daß schon ein ästhetisch bildender
Wille beteiligt gewesen wäre. Wenn der Zeichnende oder plastisch
Bildende sich von der Notdurft freimachte, während er gestaltete,
war der Bauende ein Zögling der Notdurft. Indem er das Nützliche
tat, lernte er Gesetzmäßigkeit kennen. Gesetzmäßigkeit aber ist die
Mutter des Schönen. Das Bedürfnis machte den Bauenden zum Sta-
tiker und Konstrukteur; es offenbarte sich ihm die Harmonielehre
der Schwerkraft, als er versuchte Stabilität zu erzielen. Wenn der
Zeichner, der Bildschnitzer sein Subjekt befragte, so war der Bau-
ende zuerst ein Diener, nein ein Knecht des Objektes.
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