Full text: Lehrbuch der Perspective für bildende Künstler (Text)

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Obgleich den beiden anderen Künsten nahe verwandt, nimmt doch 
die Architektur eine etwas gesonderte Stellung ein, weil sic nicht 
beschreibend, sondern erfindend und construirend verfährt. Jene bei 
den haben die Darstellung des Schönen mit den ihnen eigenthüm 
lichen Mitteln zum Zweck, diese bedient sich des Schönen, um einen 
materiellen Zweck in schöner Form zu verwirklichen. 
Von den beiden obengenannten Erfordernissen eines Kunstwerkes, 
der Schönheit und der Wahrheit — womit hier die absolute 
äußerliche, nicht die poetische Wahrheit gemeint ist — läßt sich die 
erstere nicht lehren, kaum definiren. Obgleich dem Eindrucke des 
Schönen Jeder mehr oder weniger zugänglich ist, so können das 
Wesen und die Bedingungen der Schönheit doch nur nach einer 
durch Anschauen und Vergleichen edler Vorbilder selbstvollbrachten 
Läuterung des Gefühls erkannt werden. 
Das andere Erforderniß, die Wahrheit, läßt sich definiren und 
lehren. Dre Wahrheit eines Werkes der bildenden Kunst ist die 
Uebereinstimmung seines Eindruckes auf die menschliche Empfindung 
mit dem Eindrucke des natürlichen Vorbildes selbst. 
lim die Bedingungen dieser Uebereinstimmung erfüllen zu können, 
reicht nicht die technische Befähigung allein des Künstlers ans; 
es muß ihr vielmehr die Vertrautheit mit gewissen Zweigen des 
Wissens, ohne welche sie nie den erschöpfenden Ausdruck zu finden 
vermag, zur Seite stehen. Als die vornehmlichsten unter diesen sind 
folgende hervorzuheben: 
1) Anschauen, Beobachten und Vergleichen der natürlichen Ge 
genstände haben zur Erkenntniß gewisser Normen und Gesetze in ihrer 
Bildung geführt, welche verschiedenen Wissenschaften als Grundlage 
dienen. Mit diesen muß sich der selbständig schassende Künstler 
wenigstens theilweise bekannt gemacht haben, wenn er zuvörderst 
die Beschaffenheit und die Formen seiner Vorbilder selbst 
verstehen und in seine Vorstellung überhaupt richtig auf 
nehmen will. Dahin gehört z. B. die Kenntniß des Baues des 
menschlichen Körpers, der Anatomie der Thiere, der Botanik u. s. w. 
2) Da ferner jeder natürliche Gegenstand anders erscheint, 
als er ist, bedarf es für den Künstler sowohl des Verständnisses
	        
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