Kapitel XI. Artikel 85, 86.
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Recht gewählt werden können. Einerseits hängen sie als
absolute Werte und in ihren gegenseitigen Verhältnissen
von der jeweiligen Stärke des Sonnenlichtes ab, anderer
seits von der Körperfarbe und dem Grad der Durchstrahl-
barkeit der Stoffe, aus welchen die Körper bestehen.
Bei grellem Licht ist der Gegensatz von Licht
und Schatten sehr gross und die Abstufung sowohl inner
halb der beleuchteten als der im Schatten befindlichen
Flächen (wenn zufällige Reflexlichtquellen ferngehalten
werden) nur wenig fühlbar. Die Lichtstärke der direkt
beleuchteten Flächen scheint bis nahe zur Körperschatten
grenze fast durchaus dieselbe zu sein, dann mit schmaler
Abstufungszone fast sprungweise in das sehr dunkle Streif
licht überzugehen und von diesem aus gegen den hellsten
Reflexpunkt nur wenig heller zu werden. Dies ist wohl
dadurch zu erklären, dass auch bei der ausschliesslichen
Sonnenbeleuchtung noch viele konvergierende sehr kräf
tige gebrochene Strahlen die parallelen durchkreuzen, dass
ferner bei grellem Licht die Stärke der Lichtempfindung
nicht proportional der Lichtstärke zunimmt, sondern
schwächer, wonach die Unterschiede greller Lichtstufen
von einer gewissen Grenze an nicht mehr erkannt wer
den. Eine von der Sonne beleuchtete Kugel aus hellem
Material widerspricht hienach, wenn auch nur scheinbar,
allem früher für die Lichtstufen Abgeleiteten; sie macht
aber auch, genau nachschattiert oder photographiert, weit
weniger den Eindruck einer Kugel und lässt das Gesetz
der Kugelgestalt, das unveränderliche Krümmungsmass,
weit weniger fühlen als eine mässig beleuchtete. Wenn
in einer solchen Darstellung der Umriss verdeckt wird,
erkennt man die Kugelfläche nicht mehr als solche. Als
ein hieher gehöriger Beleg ist auch die Mondkugel zu
nennen, welche aus Mangel an Lichtabstufungen den Ein
druck einer ebenen Scheibe giebt. Für das eingehende
Schattieren der technischen Gebilde ist also das Streben
nach der Nachbildung der bei Sonnenbeleuchtung er
scheinenden Lichtstufen nur nachteilig, und es empfiehlt
sich weit mehr, eine mässige Lichtstärke der Parallel
beleuchtung vorauszusetzen, welche'weniger starke Unter
schiede von Licht und Schatten darbietet, dafür aber die
Abstufungen zwischen beiden möglichst voll zur Geltung
gelangen lässt; aus diesen heraus wird die Krümmung
der Fläche am deutlichsten gefühlt.
Die Körperfarbe ist nicht nur von Einfluss auf
die absoluten Werte der vier Lichtstärken, die selbst
verständlich bei heller Körperfarbe grösser sind als bei
dunkler, sondern auch auf ihre Verhältnisse, indem dunkle
Körperfarbe die Schattentöne einander stärker nähert, als
das Licht dem Schatten und dadurch die Abstufungen
der Schattentöne stärker beeinträchtigt als die der Licht
flächen. Hiedurch wird die Schattierung dunkelfarbiger
Körper in zwei Richtungen abgeschwächt. Rote, gelbe,
grüne, blaue Färbungen der Körperfläche scheinen die
Verhältnisse der vier Lichtstärken in verschiedener Weise
zu beeinflussen.
In hohem Grad richten sich die vier Lichtstärken mit
ihren Verhältnissen und Zwischenstufen nach dem Grad
der Durchstrahlbarkeit der Stoffe, aus welchen die
Körper bestehen. Es sind zwar oben ,,nicht erheblich
Göller, Schattenkonstruktionslehre und Beleuchtungskunde.
durchscheinende“ Stoffe vorausgesetzt worden, aber in
einem bestimmten Grad, bis zu einer bestimmten Dicke,
sind alle Stoffe durchstrahlbar für das Licht, selbst die
Metalle, und die meisten in solchem Grad, dass ihre
Schattierung dadurch beeinflusst wird. Vergleicht man
z. B ein Gebilde kleinerer Dimensionen aus weissem
Marmor mit einem gleichgeformten aus trockenem Gips,
so findet sich bei jenem wegen des stärkeren Durch-
scheinens ein geringerer Unterschied von Licht und
Schatten als beim Gips; das Licht ist milder, der Schat
ten weniger kräftig, insbesondere aber das Reflexlicht
weniger fühlbar, daher die ganze Schattierung ruhiger,
weicher, edler als beim Gipsmodell. Auf Gebilden aus
dem noch stärker durchscheinenden Alabaster giebt es
kein kräftiges Licht und keinen kräftigen Schatten mehr;
nur wenig Licht wird von der Oberfläche zurückgeworfen;
weit mehr wird vom Innern verschluckt und erhellt von
innen heraus die Schatten, ihnen jede Kraft und Be
stimmtheit raubend.
Gegenüber dieser dreifachen Veränderlichkeit der Be-
dingungen für die in der Wirklichkeit erscheinenden vier
Hauptlichtstärken der Schattierungen dürfte innerhalb be
stimmter Grenzen jede dem Gefühl nach getroffene Wahl
derselben in den Schattierungen technischer Gebilde ge
rechtfertigt sein, wenn auch nicht alle Annahmen gleich
günstig für die Formendeutlichkeit sind. Nach Wahl der
vier Lichtstärken wären die Zwischenstufen so einzuschal
ten , dass überall stetige Zu- und Abnahme besteht und
die Lichtstärken der Parallelkreise zwischen je zweien der
angenommenen Grenzwerte gleiche Unterschiede auf
weisen, somit eine arithmetische Reihe bilden.
Um die praktische Verwertung der abgeleiteten Licht
stufen zu zeigen, müssen nun aber doch, alle Freiheit für
den einzelnen Fall Vorbehalten, bestimmte Annahmen für
die vier Werte getroffen werden, worüber auf Art. 115
zu verweisen ist.
Abweichende Annahme der Reflexrichtung für 86.
Gebilde auf ebener Wand.
Was über die einzuführende Richtung des Reflex
lichtes gesagt wurde, erleidet eine Aenderung, wenn es
sich um die Schattierung nahezu ebener Gebilde, z. B.
von Reliefdarstellungen oder ganzen Fassaden handelt.
Fs würde ja hier das Reflexlicht mit der angegebenen
Richtung die Ebene von der Rückseite her, also ihre •
Vorderseite gar nicht treffen, somit ohne Einfluss auf die
Schattierung sein. Daher denkt man sich bei Schattierung
derartiger Gebilde den Reflexlichtstrahl zwar auch unter
45 0 in beiden Projektionen und im Aufriss auch ent
gegengesetzt der Projektion des direkten Lichtstrahls, im
Grundriss aber senkrecht zu derselben. Dieses Reflex
licht wirkt also gegen die Vertikalebene von rechts
unten nach links oben. Sogar leichte Schlagschatten
innerhalb der Fläche des vom direkten Licht erzeugten
Schlagschattens, sogenannte „Gegenschatten“, werden als
von diesem Reflexlicht hervorgerufen häufig eingeführt
und sind für Darstellungen in grösserem Massstab meist
von günstiger Wirkung. Die erste Figur auf der dritten
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