Einleitung.
Im Hintergründe unseres Auges entsteht ein flaches Bild der vor uns be
findlichen Aussen weit. Wir sind im Stande, durch Empfindung dieses Bildes
die Aussenwelt vor uns wieder in unserer Vorstellung hervorzurufen.
Die Lehre von der Perspektive hat die Aufgabe, von den räumlichen Ge
bilden ein Flächenbild so zu entwerfen, dass beim Anblick dieses letzteren
wiederum die räumliche Vorstellung erweckt wird.
Das grosse Kunstgebiet der Malerei beruht auf Perspektive, man verlangt
mit Recht vom Maler eine Kenntniss dieser Lehre. Der unmittelbaren Auf
fassung gegebener räumlicher Gestalten kommt eine gründliche Kenntniss der
geometrischen Gesetze in hohem Grade zu statten. Perspektivische Fehler
können ein sonst noch so schönes Gemälde verunstalten, denn jeder Fehler
drängt sich in belästigender Weise dem Beschauer auf, d. h. es kommt die
Erkenntniss eines solchen zum Bewusstsein, während beim fehlerlosen Bilde
die durch die Richtigkeit der Zeichnung mitbedingte Schönheit am besten un
bewusst empfunden wird oder aber bewusst genossen werden kann.
Jede Lehre von der Perspektive ist eine geometrische, doch wurde im Titel
dieses Beiwort hervorgehoben. Die geometrische Perspektive ist die allge
meine Grundlage, die von ästhetischen Rücksichten absehen kann, während die
ästhetische Perspektive nicht der geometrischen Lehren zu entbehren vermag.
In diesem Sinne soll unsere Lehre auch den Bedürfnissen des Künstlers gerecht
werden. Eine andere Verwendung findet die Lehre von der Perspektive in der
reinen Wissenschaft, in der Geometrie des Raumes, wie sie von Mathe
matikern an höheren und hohen Schulen gelehrt wird. Es giebt kein Mittel,
den Unterricht in der räumlichen Geometrie mehr zu fördern, als eine gründliche
Kenntniss der Perspektive, denn sie führt zu richtiger Zeichnung, zur Auffassung
und Darstellung der räumlichen Gebilde.
Die meisten Mathematiker, Lehrer und Professoren, können nicht perspek
tivisch zeichnen; ja es besteht ein allgemeines Vorurteil, als sei ein gutes
Zeichnen Sache des Künstlers und nicht der Gelehrten. Der grosse Geometer
Jacob Steiner brachte keine Zeichnung für räumliche Beziehungen, er pflegte
in seinen Vorlesungen zu behaupten, die Phantasie werde frischer erhalten ohne
Zeichnung, durch blosse »kräftige räumliche Vorstellung«. Thatsächlich aber
ist eine gute perspektivische Zeichnung ganz unentbehrlich, sobald die höhere
Geometrie, namentlich die synthetische, zum Vortrag kommt. Es kann zwar
der Lehrer die Sache vortragen, allein die Zuhörer, selbst die begabtesten,
von Oettingen, Zeichnen. 4