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Die Kartographie als Wissenschaft.
nämlich die Seekarte, die praktische Karte katexochen. Es ist darum auch nicht
wunderbar, wenn das praktische, meerumflutete England zuerst auf die genauere
moderne Seekarte hinarbeitete. Für die Herstellung der Portulankarten des Mittel
alters wie der spätem eigentlichen Seekarten, so auch der feinen und gewissenhaften
deutschen Seekarten, die erfreulicherweise im Gegensatz zur englischen Fadentiefe und
in Erkenntnis der internationalen Benutzbarkeit eines solchen Werkes die Tiefen in
Metern geben, war lediglich die Brauchbar- und Verwendbarkeit der Karten für die
Seeschiffahrt der leitende Gesichtspunkt.
Erklärlich wird das Verfahren, die Tiefenlotungen der verschiedensten Völker,
soweit ihnen Vertrauen geschenkt werden kann, bei der Herausgabe eigener Seekarten
mit zu verarbeiten, wie es auch die deutschen Seekarten für küstenferne Gebiete getan
haben, nachdem mit diesem Verfahren die englischen Seekarten im Anfang des ver
flossenen Jahrhunderts begonnen hatten. Ebenso trug auch die von der englischen
Regierung herausgegebene H. Rap ersehe Sammlung nautischer Positionen alle für jene
Zeiten zugänglichen Schiffahrtdaten zusammen. 1 Im Hinblick auf die praktische Ver
wertung strebten in noch höherm Grade eine Konzentrierung und systematische Ver
einigung geographischer Beobachtungen Maurys Wind-, current-, pilot-charts 1 2 und
Sailing directions an, die auf Grund von Tausenden und Abertausenden von Beobach
tungen auf Schiffen aller Nationen von M. F.Maury im Observatorium zu Washington
auf Kosten der Vereinigten Staaten gesammelt, bearbeitet und herausgegeben wurden.
Neuern ähnlichen Arbeiten begegnen wir in den ausgezeichneten Segel- und Dampfer
handbüchern mit entsprechenden Atlanten der Deutschen Seewarte zu Hamburg.
28. Überschätzung und Ausartung der Karte. Kartenkuriosa. Die Karte kann
und vermag viel, aber nicht alles. Darum soll man nicht zuviel von ihr verlangen
und sich hüten, sie zu überschätzen. Auf die wissenschaftliche Überschätzung will ich
nicht weiter eingehen, da sie schon einigemal berührt worden ist. In der Karte liegt
sicher eine bedeutende Macht, aber nur für den, der sie richtig auszunützen versteht,
w r enn er sich nicht Lächerlichkeiten aussetzen will. 3
Die schlimmste Überschätzung liegt in den Tendenzkarten vor. Im großen
ganzen ist das Kapitel der Tendenzkarten kein erfreuliches. Sie bieten wissenschaftlich
zu wenig dar. Trotzdem läßt es sich kaum vermeiden, sie nicht als gewisse kultur
historische Denkmäler, allerdings als solche kultureller Dekadenz zu erwähnen. Wie
man mit der statistischen Zahl zu Agitationszwecken Mißbrauch treiben kann, so auch
mit der Karte, indem man bestimmte Erscheinungen besonders auffallend, grell in
die Augen treten läßt, um auf diese Weise andere, im Grunde die wahren und wichtigem,
1 Table of maritime positions. Erste Ausgabe 1840.
2 Ihre Ausgabe begann 1845.
:i Wer seinerzeit bei dem deutsch-französischen Marokkoabkommen (1911) Gelegenheit hatte,
die neuen Grenzen Kameruns auf der von der Diplomatie handschriftlich bearbeiteten Karten
skizze (auf Grundlage des vorhandenen, nicht einmal des neuesten Kartenmaterials!) zu sehen,
konnte sich beim Anblick der mit dem Lineal gezogenen neuen Grenzen nicht des Kopfschütteins
enthalten. Entweder hatte man da die Macht der Karte überschätzt oder unterschätzt, was schließ
lich zu dem gleichen Effekt führte; denn sehr viele Wirrnisse mußten bei der folgenden Grenz
regulierung entwirrt werden, was von vornherein zu vermeiden gewesen wäre, wenn man vernünftiger
weise auf die geographische Beschaffenheit des Landes mehr Rücksicht genommen hätte. Oder
sollten sich in der ursprünglichen diplomatischen Anlage die tiefem geographischen Kenntnisse
französischer wie deutscher Diplomaten offenbart haben?