Die Bedeutung der Karte.
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Es läßt sich nicht in Widerrede stellen, daß all diese Bezeichnungen und Versuche
ein gut Teil Schuld daran haben, wenn heute noch in nichtfachmännischen Kreisen die
Karte mehr als Kunst- und weniger als wissenschaftliches Produkt bewertet wird.
E. v. Sydow dürfte einer der ersten sein, der klar zum Ausdruck gebracht hat,
daß die Kartographie ein inniges Verschmelzen des wissenschaftlichen Geistes mit der
ausübenden Kunst ist. 1 Die beste, auf guter Grundlage beruhende Bearbeitung einer
Karte erfüllt nicht ihren Zweck, wenn nicht der Kartograph dem Kartenentwurf eine
schöne, ästhetisch wirkende Form zu geben und das technische Verfahren die Vorzüge
der Karte zur Geltung zu bringen vermag. * 2 Auch damit hat die Kartographie etwas
Übereinstimmendes mit der Kunst, sie bedient sich deren Reproduktionsmethoden, also
des Holzschnittes, Kupferstiches, der Lithographie, Heliogravüre, Photographie, des
Vielfarbendruckes usw. In dem Maße, wie die Reproduktionsmethoden sorgfältig oder
nicht sorgfältig behandelt werden, wird sich dies in dem Erzeugnis, also in der Karte
bekunden. Das Produkt der Reproduktionsverfahrens hält oft nicht das, was die
Manuskriptkarte versprochen. Darum muß die wissenschaftliche Kartographie auch
der Kartenreproduktion eine Stelle in ihrer Untersuchung einräumen. 3
Wird von der Karte als Kunstprodukt gesprochen, denkt man unwillkürlich an
die chorographische Karte, die gewöhnliche Landkarte, obwohl auch die angewandte
Karte und die topographische Karte viele Seiten der Kunstbetätigung und Kunst
betrachtung darbieten. Es wäre ein großer Irrtum, insbesondere bei der topographischen
Karte kein künstlerisches Können des Kartographen vorauszusetzen, übrigens eine
merkwürdige Anschauung, der im Anfang des verflossenen Jahrhunderts schon der
französische Oberst Bonne entgegentrat: ,,Man solle nicht aus den Augen verlieren,
daß eine topographische Karte eine Art Gemälde ist. Der Gegenstand selbst ist an
sich schon trocken genug; nehmen wir ihm daher nicht auch noch das Wenige, was
ansprechen könnte.“ Welche Anforderung an das künstlerische Vermögen des Karto
graphen stellt z. B. die Felszeichnung auf topographischen Karten!
Die Kunst und der Geschmack des Kartographen spricht sich vorzugsweise in
der Geländedarstellung aus, und da stellen sich wiederum der chorographischen Karte
ganz andere künstlerische Forderungen entgegen als der topographischen. Dort ist
die Generalisation, die Verkleinerung, wie E. v. Sydow sagt, die Klippe, an der sehr
viele Karten scheitern; denn gerade sie setzt ein Geistigsichversenken in den abzubil
denden Gegenstand voraus, wie kaum wo anders im kartographischen Schaffen. In
dieser Art Intuition erblickt insonderheit A. Hettner die Kunst der kartographischen
Darstellung 4 , in ähnlicher Weise, wie man von einer Kunst der historischen Darstellung
spricht. Ob wir bei der Darstellung des Geländes einmal soweit kommen, wie manche
glauben, die künstlerische Konstruktion nach der alt überlieferten Methode des Messens,
die doch der eigentliche Kern der Geometrie im Bereiche der Kunst ist, durch das
rhythmische Raumgefühl zu ersetzen, wird die Zukunft lehren.
Die Kunst, das technische Kunstschaffen sowohl wie das intuitive, ist mehr in
der Karte verankert als man glaubt. Es hilft nichts, sie wegzudisputieren. Warum auch?
1 E. v. Sydow: Der kartograph. Standpunkt Europas i. d. Jahren 1860 und 1861. P. M.
1861, S. 467.
2 C. Vogel: Übersicktsk. v. Mitteleuropa 1:750000. P. M. 1887, S. 16.
3 H. Haack: Die Fortschritte der Kartenprojektionslehre, Kartenzeichnung und -Verviel
fältigung, sowie der Kartenmessung. G. J. XXVI. 1903/1904, S. 391. — Vgl. auch oben S. 28
4 A. Hettner: Die Eigenschaften und Methoden der kartogr. Darstellung. G. Z. 1910, S. 21.