Zur Geschichte der Kritik der Kartenprojektion.
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im Atlas 1595 und auf einzelnen Karten. 1 Die trapezförmige Karte hatte er einer
wesentlichen Verbesserung unterzogen. In der damals gebräuchlichsten Ausführung
wurde der untere und obere Grenzparallel „abweitungstreu“ unterteilt und die ent
sprechenden Einteilungspunkte durch gerade Linien miteinander verbunden. Die
beiden abweitungstreu unterteilten Parallele rückte Mercator in die Mitte zwischen
Mittelparallel und jedesmaligem Grenzparallel, wodurch das Gebiet, das von der
richtigen Einteilung der Meridiane Nutzen hatte, d. h. weniger verzerrt wurde, an
Raum gewann. Im Ptolemäus erscheinen mit Ausnahme der Welt- und der siebenten
Europakarte alle Karten in dieser verbesserten Projektion. Desgleichen zeigt eine
Anzahl Karten im Atlas den gleichen Entwurf.
Ein weiterer Schritt in der Projektionsanwendung war, das vorstehende Prinzip
mit den zwei abweitungstreuen Parallelen auf zwei kreisförmige Parallele zu über
tragen, deren Mittelpunkt der Pol ist. Die entsprechenden Einteilungspunkte wurden
gleichfalls durch gerade Meridiane verbunden. Die meisten Länderkarten des Atlas
zeigen diesen Entwurf. Im Atlas minor 1607 und in einem kleinen Atlas von 1598 1 2 ,
der offenbar dem großen Mercatorischen Atlas vereinfacht nachgebildet ist, gleich
sam als „Taschenatlas“, finden wir den Entwurf auch auf den Kontinent Europa
ausgedehnt, in der Ausgabe von 1598 dazu noch auf Asien. Das widerspricht in ge
wissem Sinne dem, was J. Müller-Reinhard sagt, daß sich Mercator gehütet
habe, die Projektion, die vorzugsweise für Einzelländer geeignet ist, auf die Erdteile
zu übertragen. 3 Hat Mercator selbst den Atlas minor nicht mehr herausgegeben,
so ist er zweifellos der Spiritus rector des Unternehmens. Vielleicht hat er auch Ein
fluß auf den Taschenatlas von 1598 gehabt. Doch sind für diese Annahme die bisherigen
Anhaltepunkte noch zu schwach.
Schließlich bleibt bei diesem Gedankengang noch übrig, die abweitungstreue
Unterteilung sämtlicher Breitenkreise, ganz gleich ob diese kreisförmig oder gerad
linig gezeichnet werden. Die erstere Art kennen wir bereits in dem flächentreuen
Netz von Stab-Werner, von Mercator 1538 auf der doppelherzförmigen Karte
angewandt, später 1554 und 1572 auf der Großen Karte von Europa und auf den
Karten Asien und Afrika im Atlas. Die konzentrischen Breitenkreise verlaufen um
den Polpunkt. Daneben gibt es Karten von ähnlicher Konstruktion, nur daß der
Mittelpunkt der Parallelkreise nicht mehr im Polpunkt liegt, sondern auf der Ver
längerung des mittlern Meridians über den Pol hinaus (s. § 55).
Das Prinzip der abweitungstreuen Unterteilung sämtlicher Parallelen, übertragen
auf gestreckte gerade Breitenkreise, findet sich zum ersten Male angewandt auf der
Karte von Südamerika in der Ausgabe des Atlas von 1606, auf der Karte von Afrika
im Atlas minor 1607 und in der Ausgabe von 1609 zudem für Nord- und Südamerika.
Später hat die Projektion eine weitgehende Anwendung für Einzelländer und Kon
tinente durch Sanson gefunden.
Die speichentreue Abbildung mit dem Mittelpunkt im Nordpol findet sich auf
einer Nebenkarte der Weltkarte von 1569 (bis 20° Polabstand) und auf der Nordpolar
1 H. Averdunk u. J. Müller-Reinhard: Gerhard Mercator und die Geographen unter
seinen Nachkommen. Ergh. 182 zu P. M. 1914, S. 142. J. Müller-Reinhard bringt eine brauch
bare Zusammenstellung der von Mercator angewandten Projektionen und den dazu gehörigen
Nachweis bei den einzelnen Werken Mercators. Dabei vermisse ich den Hinweis auf den Atlas minor.
2 Diesen Atlas fand ich in der Universitätsbibliothek zu Amsterdam.
3 H. Averdunk und J. Müller-Reinhard, a. a. O., S. 140.