Zur Geschichte der Kritik der Kartenprojektion.
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den orthographischen und stereographischen Projektionen für Hemisphären klar
gelegt hat, fährt er fort: „Und dann trifft dabey die sehr erhebliche und vorteilhafte
Bedingung ein: daß alle Länder dem Baum nach, eine ihrer wahren Größe pro
portionierte Größe in der Zeichnung behalten, wenn auch ihre Gestalt nach den Seiten
hin etwas verzogen wird.“ 1 Im allgemeinen jedoch scheinen diese Erkenntnisse in
der Folgezeit verloren gegangen zu sein. Nur da und dort glimmt in den mathematischen
und geographischen Lehrbüchern ein Lambertscher Gedanke fort, wie bei Kries 1 2
und Littrow. 3 Die meisten hierhergehörigen, selbst berühmtem Lehrbücher 4 in der
ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts, geschweige denn die Kartenwerke jener
Zeit, kennen Lambert nicht. Der Grund liegt gewiß in der mühsamen und umständ
lichen Bestimmung der Parallelkurven, und hätte uns Hammer nicht die Tafeln
zur Verwandlung von geographischen Koordinaten in azimutale gegeben, es würde
heute noch die Anwendung der Lambert sehen flächentreuen Azimutalprojektion
sehr beschränkt sein.
Die Seele des Verzerrungsgesetzes von Tissot ist die Indikatrix, „une sorte
d’indicatrice“, das Verhältnis der großen zur kleinen Achse der Verzerrungsellipse
oder Deformationsellipse, durch das das Maximum und Minimum jeder Längen
veränderung auf den verschiedenen Kartenpunkten ausgedrückt wird. Zöppritz,
Hammer, Bludau und Haentzschel 5 haben den Begriff der Indikatrix anschaulich
entwickelt. Für flächentreue Projektionen hat Bludau die gleichen Verzerrungs
linien, die „Äquideformaten“, wie sie S. Günther zuerst genannt hat, und die Lage
der Indikatrixachsen bestimmt und gezeichnet. 6 Der Niederländer Schols zeichnete
die ersten Äquideformaten, und für flächentreue Entwürfe der ganzen Erde hat
W. Behrmann eine größere Anzahl Äquideformatenbilder gegeben. 7
52. Einfluß der neuen Lehren auf das Kartenbild. Dem k. und k. Militär
geographischen Institut zu Wien gebührt ohne Zweifel der Kuhm, die Tissotschen
Untersuchungen über die Verzerrung zuerst durch H. Hartl praktisch gewürdigt
und erprobt zu haben; denn Hartl hatte sich die Aufgabe gestellt, die Verzerrungen
zu ermitteln, die entstehen, wenn bei einem Entwürfe einer Karte der österreichischen
Monarchie eine oder die andere der gebräuchlichen Projektionen, nämlich Bonne,
Cassini, Gradkartensystem und Tissot, zur Anwendung kommt. 8
1 J. E. Bode, a. a. O., S. 324.
2 Fr. Kries: Lehrbuch der mathematischen Geographie. Leipzig 1814, S. 209.
3 J. J. Littrow: Chorographie oder Anleitung, alle Arten von Land-, See- und Himmels
karten zu verfertigen. Wien 1833, S. 7.
4 Wie z. B. die Anfangsgründe der mathematischen Geographie von B. Studer. Bern, Chur
u. Leipzig 1836.
5 E. Haentzschel: Das Erdsphäroid u. seine Abbildung. Leipzig 1903, S.80. Haentzschel ist
mit Recht gegen die bloße Bezeichnung „Indikatrix“, die einen falschen Eindruck erweckt, da Tissot
ganz korrekt „une sorte d’indicatrice“ schreibt, worunter er eine „indicatrice de déformation ou l’alté
ration“ versteht. Mit der Bezeichnung „Verzerrungsellipse“ kommt die Kartographie vollständig aus.
0 Die hierhergehörigen Aufsätze und Skizzen von A. Bludau befinden sich in der Ztschr.
d. Ges. f. Erdkde. zu Berlin: 1890, Bd. 25, S. 263; 1891, Bd. 26, S. 145; 1892, Bd. 27, S. 221 ; sowie
in P. M. 1892, S. 214.
7 W. Behrmann: Zur Kritik der flächentreuen Projektionen der ganzen Erde und einer
Halbkugel. Sitzgsber. der K. Bayer. Ak. der Wissenschaften. Math.-phys. Kl. München 1909.
s H. Hartl: Die Projektionen der wichtigsten vom k. k. Generalquartiermeisterstabe und
vom k. k. Militär.-geogr. Inst, herausgegebenen Kartenwerke. In den Mitt. des k. k. Militär-geogr.
Inst. Wien 1886, Bd. VI, S. 120ff.