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Das Kartennetz.
ist aber bei seiner Definition der geographischen Koordinaten an keine bestimmte
Voraussetzung über die Form der Horizontalflächen der Erde unbedingt gebunden.
Geht man dagegen, wie es der Geograph tun muß, von der bestimmten Annahme
aus, die Horizontalflächen der Erde seien Kugeln oder Sphäroide, so entsprechen jeder
Angabe geographischer Koordinaten bestimmte Bogenstücke der Meridiane und
Parallelkreise auf der kugelförmigen, bzw. sphäroidischen Erde. Damit ist das dem
Geographen vertraute Gradnetz der Erde definiert. Die Bestimmungen der Ortslagen
richten sich nach Äquator und irgendeinem als Nullmeridian bezeichneten Längengrad.
Jedes offizielle Kartenwerk hat als Nullmeridian meist den Meridian seiner
bedeutendsten Sternwarte oder seines Hauptortes oder auch eines sonst in der Ver
messung des Landes besonders ausgezeichneten Punktes. 1 Sämtliche englische Karten
zählen nach der Greenwicher Sternwarte, die französischen nach der Pariser, wie auch
die rumänischen; die Bussen richten sich nach dem Meridian der Nikolai-Hauptstern
warte in Pulkowa. In Schweden folgt die geographische Orientierung dem Observa
torium in Stockholm, in Norwegen dem Observatorium in Kristiania. Der Meridian
von Athen ist den Griechen, der von Lissabon den Portugiesen, der von Kopenhagen
den Dänen, der von Helsingfors seit 1910 den Finnländern Nullmeridian. Die Italiener
zählen von dem Meridian aus, der durch das trigonometrische Signal auf dem Monte
Mario bei Born läuft. Unter den außereuropäischen Staaten hat der Meridian von
Washington für die Vereinigten Staaten von Amerika zweifellos die größte Bedeutung
infolge seiner wissenschaftlichen Grundlage und der dadurch bedingten Brauchbar
keit. Mexiko zählt nach dem Meridian von Mexiko. Von den südamerikanischen
Staaten hat natürlich jeder seinen besondern Nullmeridian. Von größerer Bedeutung
sind eigentlich bloß die von Bio de Janeiro (Brasilien), Cordoba (Argentinien) und
Santiago (Chile). Nur die Deutschen und Österreicher haben keinen nationalen Null
meridian; sie hielten fest an dem althergebrachten Meridian von Ferro. Damit war
eigentlich ein internationaler Nullmeridian, der Einheitsmeridian, angebahnt.
Aber deutsche Gelehrte, unter ihnen außer namhaften Geodäten besonders H. Wagner 1 2 ,
und Schulmänner hatten sich mit größter Energie eingesetzt, den Ferromeridian
zugunsten des Greenwicher abzuschaffen, indem sie hervorhoben, daß der Greenwicher
Meridian fast ausschließlich als Ausgangspunkt für die Schiffahrt, Astronomie, Zeit-
und Erdmessung benutzt werde. Indessen hat er doch nicht das Ansehen eines
Einheitsmeridians erlangt. Unter den andern Kulturvölkern sind es nur wenige,
die sich nach Greenwich richten, so die Argentinier seit 1911. 3 Bloß die Deutschen,
seit 1884 4 , und die Österreicher gönnen sich das besondere Vergnügen, auf ihren choro-
graphischen Karten die Greenwich- und auf ihren offiziellen Karten die Ferro-Orien-
tierung zu besitzen. Das sind aber für die deutsche Kartographie unhaltbare Zustände,
entweder kehrt man zu Ferro zurück oder die offiziellen Kartenwerke geben wenigstens
1 E. Mayer: Die Geschichte des ersten Meridians und der Zählung der geographischen Längen.
Wien 1879. — H. Haag: Die Geschichte des Nullmeridians. Diss. Gießen. 1912. Leipzig 1913.
2 H. Wagner: Die Stellung der deutschen Kartographie zur Frage der Einführung des ein
heitlichen Meridians. Verhandlgn. des IV. Deutsch. Geographentages zu München 1884. Berlin 1884,
S. 55-65.
3 Japan beschloß 1886, die genau um 9 Stunden von Greenwich differierende Zeit als japa
nische Nationalzeit einzuführen.
4 Verh. der 7. allgem. Konferenz der europäischen Gradmessung, Berlin 1884, S. 71; Bericht
der Kommission zur Prüfung über die vom Bureau der permanenten Kommission gemachten Vorschläge
bezüglich der Vereinheitlichung der Längenzählung und Stundenzählung.