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Die Landkarte und ihr Gelände.
gestellt. Die Vogelperspektive wurde in der Hauptsache auf Kartenbildem großem
Maßstabs angewandt, weniger auf kleinmaßstabigen Karten, wo sie zur einfachen
Schabionisierung des Terrains herabsank und sich in nichts von der alten Manier der
Bergzeichnung in Maulwurfs- oder Heuhaufen mit verschiedenen großen Bergformen,
die sich bis ins 19. Jahrhundert hinein für chorographische Karten behauptete, unter
schied. Bei den kleinen Maßstäben haben sich die Unterschiede von Halbperspektive
und die in Schablonen arbeitende Vogelperspektive ganz verwischt, die aber auch
in der Literatur für Karten großen Maßstabs von namhaften Geographen und Karto
graphen untereinandergeworfen werden. In den meisten Fällen handelt es sich um
Kavalierperspektive, wo von Vogelperspektive gesprochen wird.
244. Pläne und Karten in Kavalierperspektive. Die Kavalierperspektive wurde
bei den Darstellungen von Belagerungen und Schlachten, von Festungen und topo
graphischen Spezialkarten (zur Zeit des 30jährigen Krieges vorzugsweise) angewandt.
Mit ihrer Hilfe gelang es, anstatt der bisher üblichen Gebirgsformen, die trotz aller
Schattierung im Grunde genommen nur Profilschnitte waren, einen großem Teil der
Oberfläche der Erhebungen zu überblicken. Neben Landschaftsmalern brachten es
darin italienische und französische Ingenieuroffiziere zu großer Meisterschaft. Festungs
und Stadtpläne wurden schon früh in Kavalierperspektive dargestellt, wie der Plan
von Venedig von Jacobo de Barbari aus dem Jahre 1500, der uns in meisterhaftem
Holzschnitt erhalten ist. 1 Wahre Kabinettstücke dieser Pläne liefern das 17. und
18. Jahrhundert. Alle großem und bedeutendem Orte sind in dieser Weise dargestellt
worden. Berühmt ist der Daniel v. Hubersche Plan Wiens aus den Jahren 1769
bis 1774. Will man die Straßenzüge in der wahren Gestalt zeigen, wird die Stadt
ansicht heute noch in Kavalierperspektive dargestellt. Auf Ortsplänen für das große
Publikum beschränkt sie sich zumeist auf die sehenswerten Baudenkmäler, die aus
dem Grundrißplan hervorragen. Eine Ansicht in Vogelschau vermag nicht die wahre
Gestalt wiederzugeben, dagegen wirkt sie malerischer. All diese Gebilde werden kaum
noch oder überhaupt nicht mehr als Karten angesprochen, so daß man mit Berech
tigung sagen kann, die Kavalierperspektive und die Vogelschau sind in der neuern
Kartographie ausgestorben; wohl aber haben sie ihre Lebensfähigkeit in der dar
stellenden Geometrie bewiesen und finden da sogar in neuern Publikationen erhöhtere
Berücksichtigung als in ältern. 1 2
Ein erstes Kartenbild (Landschaft und Stadtplan) nach Kavalierperspektive
fand ich in der Privatbibliothek von Artaria u. Cie. in Wien in dem Atlas Venezia
presse Giov. Franc. Camoccio 1571 und 1572 (in 79 Blättern). Das Gelände zeigt
fast durchgängig noch die übliche Bergzeichnung; nur die beiden Kuppen von S. Ni-
cholo und S. Rocho sind wie die Häuser und die Wasserbastion der Stadt Chios
halb von oben gesehen dargestellt. Auf diese Weise wußte sich der Zeichner zu
helfen, die Bedeutung der beiden Berge hervorzuheben und zugleich die Wege voll
ständig zu geben, die von der Stadt nach den beiden Kapellen hinaufführen, was
ihm bei der sonst üblichen Terraindarstellung, da sie rückwärtiges und tiefer ge
legenes Gelände verdeckt, nicht möglich gewesen wäre.
1 K. v. Haradauer: Kartographische Seltenheiten aus Wiener Sammlungen. Verh. d. Deutsch.
Geographentages. IX. Wien 1891, S. 289.
2 G. Scheffers: Lehrbuch der darstellenden Geometrie. I. Berlin 1919, S. 135—140, 227.