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Die Kartographie als Wissenschaft.
Im Anfang des 19. Jahrhunderts war es nur wenig besser geworden. Die Wider
wärtigkeiten, die J. Perthes zu bekämpfen hatte, traten bereits ein, als die ersten
Hefte von Stielers Handatlas erschienen waren. 1 Sie steigerten sich bei der Heraus
gabe von Heinrich Berghaus’ Physikalischem Atlas, so daß voll Unmut Heinrich
Bergbaus die „nachäffende Fabrikation und mittelalterliche Freibeuterei“ geißelte.
Seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts hat die Art und Weise der Benutzung
anderer Kartenerzeugnisse im allgemeinen einer anständigem Form Platz gemacht
und die ältere schamlose Ausbeutung des Kartenmaterials der tonangebenden Institute
durch kleinere Anstalten und Firmen, die sich allerdings auch heute noch oft zu Un
recht „geographische“ oder „kartographische Anstalten“ und ähnlich nennen, gehört
Gott sei Dank zu den größten Seltenheiten. Während die Karten der großen karto
graphischen Institute von Deutschland, England, Frankreich, der Schweiz, Italien,
Österreich usw. in der Hauptsache mit Zugrundelegung der ursprünglichen Karten
aufnahmen mühevoll herausgearbeitet sind, so daß sie vollwertige Originale sind, können
die kleinen Firmen selten derartige Originale aufweisen, da sie meist über keine geo
graphisch und methodisch ausgebildete Kartographen verfügen, die nicht auf die Ur
quelle zurückzugehen vermögen, und deren Leistungen mehr oder minder auf den
fertigen Oiiginalleistungen der großen Institute basieren. Bekannt ist, daß die Perthes-
sehen Karten von kleinen Firmen ausgiebig benutzt und verwertet worden sind, daß
weiterhin verschiedene deutsche Schulatlanten, selbst diejenigen renommierter Anstalten,
bei E. Debes zu Tische gegangen sind. Der Typus, den Debes mit seinen Atlanten
•geschaffen hat, tritt selbst hei Atlanten, die sich im speziellen nicht an Debes anlehnen,
im allgemeinen doch wie ein Familienzug hervor. Das mag auch damit Zusammen
hängen, daß Kartographen von einem Institut zum andern gewechselt sind, wie z.‘ B.
von Debes hinüber zu Yelhagen & Klasing; übrigens eine Erscheinung, die sich
auch für ältere Zeit feststellen läßt. So wissen wir, daß schon Janssonius undHondius
Mitarbeiter Blaeus, des Schülers von TychodeBrahe, für sich zu gewinnen suchten.
9. Richtlinien für die Beurteilung von Originalkarten. Es ist richtig, daß Art und
Weise, Zweck und Ziel der weitern Verarbeitung und Durchdringung des Kartenstoffs
von Fall zu Fall eine ^Richtschnur der Beurteilung bilden werden, inwieweit die neue
Leistung, die sich nicht auf Quellen erster Ordnung stützt, zu einem Original aus
gewachsen ist. Damit reden wir nur schöne Worte nach, die man öfters hört und mit
denen im Grunde genommen kein Ausmaß für die Nutzanwendung gewonnen wird.
Bei diesem Problem muß schon tiefer geschürft werden.
Das jahrhundertwährende Plagiatunwesen in der Kartographie hat seinen tiefem
Grund — die geschäftlichen Aspirationen laß ich ganz aus dem Spiele — in dem Un
vermögen der meisten Kartenbenutzer, selbst vieler Kartenverfertiger, das Karten
original richtig einzuschätzen. Dieses offenbare Manko hätte schon längst dazu führen
müssen, gewisse Bichtlinien in der Beurteilung von Originalkarten aufzustellen. Dem
gegenüber steht hemmend am Anfang gleich die Beantwortung der Frage: Was ist
eine Originalkarte? Beispielsweise ist das preußische Meßtischblatt eine Originalkarte,
da sie direkt auf den Aufnahmeskizzen basiert, die württembergische Karte 1: 25000
in diesem Sinne nicht, und dabei ist sie besser und vielfach auch korrekter als jene aus
geführt ; sie ist aus den Flurkarten 1: 2 500 herausgewachsen. Dieses scheinbare Dilemma * S.
1 Justus Perthes in Gotha 1785—1885, Jubiläumsschrift der geogr. Anstalt von J. Perthes.
S. 47.