Die morphographische Deduktion.
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292. Geländedarstellung und Plastik. Die Geländedarstellung, sofern sie raum-
veranschaulichend wirken soll, muß eine gewisse Plastik besitzen. Für die clioro-
graphischen Kartenbilder und die topographischen Übersichtskarten ist unbedingt
die Plastik oder die körperliche oder, allgemeiner ausgedrückt, die effektvolle Wirkung
nicht zu unterschätzen. Man kennt und schätzt die Plastik und hat über sie eben
soviel Gutes wie Überflüssiges geschrieben; über ihr Wesen jedoch ist man sich immer
noch nicht einig. Vielerlei Anschauungen und Begriffe werden da durcheinander ge
schüttelt, ohne daß die Kompetenz der einzelnen sorgfältig begrenzt wird.
Bei der Plastik muß zunächst ein Körper da sein, denn nur ein solcher läßt
sich plastisch abbilden. Angenommen, der Körper besäße keine Formen, dann wäre
es eo ipso nicht möglich, ihn plastisch darzustellen. Infolgedessen wird Körper mit
Körperformen oder kurzweg Formen identisch gebraucht. Eine weitere Folge ist,
daß, wenn ich etwas plastisch wiedergeben will, Formen vorhanden sein müssen, und
daß es mithin im Grunde genommen gar keinen Sinn hat, von einer besondern „For
menplastik“ in der Kartographie zu sprechen, geschweige denn von einer „Formen
plastik der schrägen Beleuchtung“. Jede Kartenplastik ist Formenplastik.
Auf topographischem Gebiet wird man am besten zwischen zeichnerischer
und wissenschaftlicher Plastik unterscheiden; denn nur durch die Manier und
die Darstellungsmittel werden die Unterschiede geschaffen, nicht durch die Form,
die in jedem Falle die gleiche bleibt. Schon die mittelalterlichen Kartengebilde geben
treffliche Zeugnisse für die zeichnerische Plastik, mehr noch die, die seit der
Renaissance den Kartenmarkt eroberten. Die Berge und die Hügel erscheinen darauf
in Vertikalansicht und werden durch mehr oder minder kräftig geführte Schatten
striche plastisch hervorgehoben. Diese Art der Geländedarstellung starb vor etwa
einem Jahrhundert aus. Vielen jener Gebilde muß man sogar eine künstlerische
Plastik nachrühmen, da sie in ihrer Wirkung weit über den Rahmen einer einfachen
Geländemanier, die in gleichmäßig aneinander gereihten Bergformen bestand, hinaus
ragen. Ganz scharf sind übrigens auch heute noch nicht die Grenzen zwischen zeich
nerischer und künstlerischer Plastik zu ziehen. Nach dem jetzigen Stande der karto
graphischen Geländedarstellung muß man als reine zeichnerische Plastik die an
sprechen, die durch Scharung von Höhenlinien entstanden ist.
Die künstlerische Plastik kann man unter Umständen als eine Abart der
zeichnerischen auffassen. Bei der schrägen Beleuchtung schwimmt sie so recht in
ihrem Fahrwasser. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, dieser Plastik eine streng
wissenschaftliche Basis zu geben. In der Theorie ist nur einer leidlich ausgefallen,
doch auch er hat in der Ausführung versagt, und bei keiner Geländedarstellung ist
in praxi der wissenschaftliche Hintergrund so verwischt worden als gerade bei der
schrägen Beleuchtung. Damit wird ihr kein Vorwurf gemacht. Auch hier zeigt sich
wieder, daß man von einer Sache nicht das fordern kann, was nicht in ihrem Wesen
liegt. Für gewisse veranschaulichende Zwecke ist die plastische Wirkung schräg be
leuchteter Karten trotz aller Einwände, die gegen sie von mancher wissenschaftlichen
Seite erhoben worden sind, unentbehrlich und wird auch in Zukunft nicht entbehrt
werden können. Selbst aus der wissenschaftlichen Plastik leuchtet ein Funken künst
lerischen Könnens. Darum sind auch Sätze, wie der von V. Wessely: „Die Plastik als
Mittel der Terraindarstellung bietet nur scheinbar große Vorteile“ 1 , direkt von der Hand
1 V. Wessely: Die Kartographie. II. Teil. Die Bergzeichnung in Karten u. Plänen. Bremer
haven u. Leipzig (1908). S. 45.