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Die Kartographie als Wissenschaft.
„naturtreu“ 1 (Peschei), das Antlitz der Erde treu wiedergebend (Sydow) usw.
in „naturähnlich“ umgeprägt werden. Die Äußerungen von Petermann, Peschei
und vielen andern, auch neuern Autoren in Ehren, aber naturgetreue Karten gibt
es einmal nicht, ebensowenig wie es raumtreue Karten gibt. Der Abweis dieser Aus
drücke erfährt noch im Laufe unserer Untersuchungen eine eingehendere Begründung.
Gleichsam berichtigend möchte ich hier anfügen, daß sich August Petermann,
dem vielfach eine übertriebene Wertschätzung der Karte zugesagt wird, des be
dingten Wertes der Karte recht wohl bewußt war. Im ersten Bande des geographischen
Jahrbuches sagt er selber: „Der Begriff aller unserer Karten ist ein durchaus relativer.“ 1 2
Gewiß mag zu dieser Auffassung nicht unwesentlich eine Erörterung mit dem großen
Schweizer Geographen und Kartographen J. M. Ziegler geführt haben, der in einem
vom 12. Januar 1865 datierten Brief an Petermann schrieb: „Je mehr man die
Geologie berücksichtigt, desto mehr wird die Anschaulichkeit und Richtigkeit einer
topographischen Karte erreicht. Es ist mir immer, man wird an den geographischen
Karten der Gebirgsländer nach ein paar Generationen von vorn anfangen und alles,
was naturwissenschaftlicher beobachtet und bestimmt worden ist, in das Kartenbild
eintragen.“
17. Kartenwesen lind Kartenart. Bei der Herstellung einer Karte handelt es
sich zunächst um die Lösung einer geometrischen Aufgabe, um die konstruktive Nach
bildung der Raumlage geographischer Objekte. Wie wir später noch sehen werden,
bestimmen Stand der Erkenntnis, Maßstab und Zweck den Umfang und die Zahl
der darzustellenden Objekte.
Neben den rein geographischen Objekten, w r ie sie die Natur wiedergibt, gibt es
vielerlei geographische Erscheinungen und Tatsachen, die gleichfalls eine karto
graphische Darstellung erheischen; sie sind nicht direkt in der Natur beobachtet
worden, sondern erst auf dem Wege der Induktion oder Deduktion aus Beobachtungen
in der Natur oder über die die Erde besiedelnden Menschheit gewonnen. Solche Karten
bringen mithin teils physisch-geographische, teils anthropogeographische (im weitesten
Sinne) Erscheinungen zur Darstellung. Werden insbesondere wirtschafts- und ver
kehrsgeographische Tatsachen in das Kartenbild hineingearbeitet, dann sind diese
Karten so recht der graphische Ausdruck unsers momentanen Gesamtwissens über
eine Gegend. 3 Wenn es sonst noch zweifelhaft wäre, den Menschen von der geo
graphischen Betrachtung auszuschließen, müßten gerade die besten unserer Karten
diese Zweifel beheben.
Die topographischen Karten großen Maßstabes sind im Grunde genommen
Spezialkarten (die topographische Karte ist letzten Endes immer Spezialkarte), denn
infolge ihres Maßstabes ist es ihnen noch möglich, das Nebeneinander der geographischen
Objekte speziell, d. h. deutlich und klar ohne sinnfällige Übertreibungen sichtbar zu
machen, besonders auch die allgemeinen Erscheinungen der Pflanzenwelt, wie Nadel-,
Laubwald, Gebüsch, Wiese, Sumpf, und des die Erdoberfläche verändernden Wirkens
1 O. Peschei: Neue Probleme d. vergleichenden Erdkunde. 4. Aufl. Leipzig 1883, S. 5. —
C. Vogel üb. S. Simons Karte vom Ötzthal und Stubai. P. M. 1894. LB. 588, S. 151. — H. Habe-
nicht: Bemerkungen zur neuen Lieferungsausg. d. „Großen Stieler“. P. M. 1902, S. 13.
2 A. Petermann: Notiz üb. d. kartograph. Standpunkt d. Erde. G. J. I. Gotha 1866, S. 581.
3 Fr. Ratzel: Die Erde und das Leben. I. Leipzig und Wien. 1901, S. 55. — H. Fischer:
Die Anforderung d. Vollständigkeit an d. Karte. Ratzel-Gedenkschrift. Leipzig 1904, S. 70.