Die Karte an sich.
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Die Erläuterungen dokumentieren die Summe von Fleiß, die in der Vorarbeit zu
bedeutenden Kartenwerken steckt; sie dokumentieren aber auch die kritische Urteils
fähigkeit des Verfassers und die damit verbundene, von wissenschaftlichem Stand
punkte aus verlangte Rechenschaft über jeden Punkt der Karte.
Am berühmtesten sind die kritischen Kartenkommentare von d’Anville ge
worden. Mit den durchdringenden Augen eines Richters hatte er die Geographie seiner
Zeit untersucht und alle Karten, soweit sie ihm zugänglich waren, mit kritischem Scharf
sinn nach streng wissenschaftlichen Grundsätzen geprüft. Dies reinliche Fegen auf
vielen Karten, besonders mit der Absicht der Ausmerzung von unnötigem und un
kontrollierbarem Namenballast, kam vor allem der Afrikakarte zugute. Seine Karten
und Inhaltserläuterungen 1 galten lange nach seinem Tode noch als unerreichbare Muster;
sein Ruhm ging weit über die engern Grenzen seines Vaterlandes. In England war es
James Rennell (1742—1840), der mit seinem Memoir of a map of Hindoostan 1788
in die Fußstapfen seines großen Vorbildes trat. Nach dem Erscheinen dieses Kommentars
schrieb Edward Gibbon (1787—1794) in seiner umfangreichen History of the décliné
and fall of the Roman Empire: „If he (Rennell) extends the sphere of his inquiries
with the same critical knowledge and sagacity, he will succeed and many surpass, the
first of modern geographers — d’Anville“. Rennell hat die Hoffnung Gibbons
nicht zuschanden werden lassen und hat in allen folgenden Werken seine umfassende
Gelehrsamkeit und scharfsinnige Kritik dokumentiert. 1 2
Wie in England wirkten auch in Deutschland d’Anvilles kartenkritische Ar
beiten nach. Als Heinrich Kiepert (1818—1899) im Jahre 1853 in die Berliner
Akademie der Wissenschaften aufgenommen wurde, begrüßte ihn damals August
Boeckh als „unsern neuen d’Anville“, und er selber bezeichnete den französischen
Akademiker als sein Vorbild: ,,Das Werk eines solchen Meisters mit Hilfe der erweiterten
und gediegenem Hilfsquellen unsrer Zeit zu vervollkommnen und fortzusetzen, soll
meine Lebensaufgabe sein.“ Und Kiepert hat sein Versprechen redlich gehalten, ja
er hat in bezug auf philologische Kenntnisse und kartographisch philologische und topo
graphische Kritik seinen Meister weit übertroffen. Die größte Leistung seiner kon
struktiven Arbeit war der Aufbau der Karte Kleinasiens. 3 Die peinlichst genaue
Namenschreil ung wird stets neben vielem andern eine Zierde seiner Atlanten und
Einzelkarten sein. „Ihn lockte nicht leicht ein etymologisches Irrlicht in den Sumpf;
ihm leuchtete die Fackel selbsterworbenen Wissens.“ 4 d’Anville, Rennell und Kie
pert sind die glänzenden Vertreter einer topographischen Kritik. In Kieperts Fuß
stapfen ist kaum ein neuerer Kartograph getreten, mehr nach der kritischen als karto
graphischen Seite W. Sieglin und dessen Schüler M. Kießling.
Einen letzten Rest der großen französischen Kartenkommentare bilden die Karten
erklärungen, bzw. die Texte, mit denen die Rückseiten der Kartenblätter in vielen
1 Über 200 Karten tragen seinen Namen. Besonders geschätzt waren seine Karten für
l’Histoire ancienne et l’Histoire romaine de Ch. Rollin; von seinen Werken: Traité des mesures
anciennes, et modernes, 1769; Traité des Etats formés en Europe après la chute de l’empire d’Occi-
dent, 1771; Géographie ancienne, 1782; ferner: Analyse de l’Italie, 1744 (328 S.).
2 C. A. Frenzel: Major James Rennell, der Schöpfer der neuem englischen Geographie.
Diss. Leipzig 1904, S. 184 ff.
3 H. Kiepert: Memoir über die Construktion der Karte von Kleinasien und Türkisch
Armenien. Berlin 1854.
4 J. Partsch: Heinrich Kiepert. Ein Bild seines Lebens und seiner Arbeit. G. Z. 1901.
S.-A., S. 27.
Eckert, Karten Wissenschaft. I.
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