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Die Kartographie als Wissenschaft.
französischen Atlanten, seien es Hand-, Volks- oder Schulatlanten, gern bedruckt
werden; in historischen Atlanten müssen sogar noch die Kartenseiten zur Textwieder
gabe herhalten. 1 Auf deutscher Seite finden wir die französische Art in Spamers
Großem Handatlas, Leipzig 1896, nachgeahmt, was nicht zu verwundern ist, da die
größte Anzahl der 75 Karten von den Platten des Atlas de géographie moderne von
Schräder, Prudent et Anthoine gedruckt worden ist; der rückseitige Text stammt
aus der Feder A. Hettners und ist vielfach wertvoller als die Karten. Bei Lichte be
sehen wäre das die innigste Verquickung von Karte und Buch, wenn nur nicht bei
den Unternehmungen dieser Art meist die kartographische Technik leiden würde. 1 2
II. Die Bedeutung der Karte.
23. Karte und Buch. C. Vogel hatte einst den schwerwiegenden Satz geschrieben:
„Sie — die Karte — soll nicht des erklärenden Wortes bedürfen, sondern umgekehrt
dem Betrachtenden, dem Lehrer und geographischen Schriftsteller die Basis sein, von
welcher aus er seine Ansichten bildet und sie andern mitteilt“. 3 Das dürfte heute nicht
widerspruchslos hingenommen werden. Denn die Bedeutung, auf die Vogel hinzielt,
erlangt die Karte nur bei dem, der auf der Höhe der kartographischen Erkenntnis
steht; denn „toute carte est une schématisation! — Même avec les instruments et les
mc'thods modernes on doit interpréter.“ 4 Nur die sogenannte „natürliche Landkarte“
könnte unter gewisser Voraussetzung von dem Vorwurf der Schematisierung befreit
werden. 5
Wenn Vogel recht behalten sollte, müßte es eine kartographische Schablone
geben, nach der man Karten zu zeichnen imstande wäre, die gleichzeitig allen An
forderungen in höchster Potenz zu genügen vermöchten. Das ist jedoch ausgeschlossen.
In der Karte steckt soviel Konventionelles und soviel ist nach Konvention gearbeitet,
daß sie unbedingt eine Erklärung erheischt. Wir wissen, daß die Karte mit einem
Minimum von Linien ein Maximum von Gedanken sagt. Diese Sprache aber muß
1 Vgl. F. Schräder, F. Prudent et E. Anthoine: Atlas de géographie moderne. Paris.
Hachette & Co. Ausg. 1904. — F. Schräder: Atlas de géographie historique. Paris 1896. — Vidal-
Lablache: Atlas général. Paris 1894. — Ch. Petit et E. Roy: Livre-Atlas de géographie. La France
et ses colonies. Paris s. a. (6. Ausg. 1910). — V. Levasseur: Atlas national. Paris 1854. Außer
Legende und Text sehen wir auf jeder Departementskarte Abbildungen (in Kupferstich) von den
hauptsächlichsten Produkten des betreffenden Departements.
2 Das hebt A. Su pan besonders hervor in einer Besprechung von P. Foncin: Géographie
générale (3. Aufl. Paris 1889) in P. M. 1890, LB. S. 93. Er spricht sich direkt gegen die Vereinigung
von geographischem Handbuch und Atlas aus.
3 C. Vogel: Das Ideal einer modernen Landkarte. Aus allen Weltteilen. Jahrg. XII, S. 162.
4 E. de Martonne: Les enseignements de la topographie. Annales de Géographie. XIIT.
1904, S. 386.
5 Die „natürlichen Landkarten“ sollen Unterrichts- und allgemeinen Unterhaltungszwecken
dienen. Auf einer Bodenfläche von verhältnismäßig großem Umfang sollen die Ländermassen nach
Art der Reliefkarten dargestellt werden. Friedmann schlägt in P. M. 1865, S. 271 vor, die Alte
Welt oder Europa allein auf einer Fläche von etwa V 6 Meile Durchmesser darzustellen. Die Ver
tiefungen wären mit Wasser auszufüllen. Übrigens ist das ein Gedanke, der schon 1856 zu Wien auf
der 32. Versammlung Deutscher Naturforscher und Ärzte laut wurde. — Unter diese natürlichen
Landkarten könnte man vielleicht das Relief von Tirol zu Innsbruck rechnen, in dem man herum-
wandeln kann und das aus ureignen Gesteinen der dargestellten Gebirgsstöcke und-teile aufgebaut ist;
J. Schüler hat dies Relief, das bei einem Maßstab 1:7500 (vertikal 1:2500) 90 qm umfaßt, zu
sammengesetzt. — Aber auch bei diesen Gebilden ist ohne Schematisierung nicht auszukommen.