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Die anorganische Welt im Kartenbild.
Durch den äußerlich bestimmt auftretenden Liniengang der Isothermen darf
man sich nicht täuschen und irritieren lassen. Das „Als ob“ beherrscht das Karten
bild. Fiktive Begriffe sind mehr als erwünscht vorhanden. Damit sind unausbleib
liche Willkürlichkeiten verbunden. Wie ungenau selbst unsere besten Isothermen
karten noch sind, weist A. Supan nach. 1 Auch J. Hann gibt zu, „daß eine von Will
kürlichkeiten freie, wissenschaftliche Anforderungen entsprechende Konstruktion
der Linien gleicher Temperatur geradezu unmöglich wird“, wobei er jedoch bloß an
die nicht wohl erwogene Vermengung von horizontaler und vertikaler Temperatur
auf einem Kartenbilde denkt, wie sie beispielsweise in den Karten von F. W. Putzger
vorliegt. 1 2 Sehen wir uns jedoch die Hannschen Karten genauer an, schimmert
nicht auch da trotz aller Reduktion der Talstationen das orographische Bild hindurch,
wenn die höher gelegenen Gebiete mit der raschen Wärmeabnahme kühler als ihre
Umgebung und umgekehrt die Gebiete, wo die Temperaturabnahme langsamer erfolgt,
wärmer erscheinen. Hann weiß es und resigniert gesteht er, daß es wohl nie gelingen
werde, die orographische Gestaltung vollständig zu eliminieren. Die durchaus ein
seitige Berücksichtigung der Talstationen empfand schon der russische Meteorologe
Alex. Wo ei ko w als nicht für alle Gegenden der Erde passend. 3 Hann hat wohl diese
Ansicht widerlegt 4 , aber nicht restlos entkräftet. Für Nordsibirien haben neuere
russische Untersuchungen Woeikow recht gegeben (s. S. 230). Unleugbar zeigen
Berg-, Tal-, Plateau-, Vorland-, Wald- und Stadtstationen bemerkenswerte Unter
schiede und heften dem Verlauf der Isothermen viele Unsicherheiten an, wie man
schon zwischen den Stationen von Nord- und Süddeutschland wahrnimmt; indessen
den Aufbau einer Isothermenkarte nur auf eine Sorte von Beobachtungsstationen
zu beschränken, heißt der Karte Gewalt antun, oder mit andern Worten, ihr Aus
reifen verhindern wollen. 5
Betrachten wir eine Isothermenkarte von einem bestimmten Zeitabschnitt,
darf man nicht übersehen, daß durch sie ein ungefähres Bild der wirklichen Verhältnisse
gegeben wird. Das ganze Isothermensystem hat nichts Feststehendes, es wandert
mit der Sonne auf der Erde periodisch hin und her; es muß, wie schon B. Cotta sagte,
„in beständigem Hin- und Herschwanken gedacht werden“. 6 In der Hauptsache
wird eine südnördliche Tendenz befolgt und umgekehrt. Sie wird mannigfach variiert
durch die Lage der Kontinente und Ozeane zueinander, die neben der solaren Wärme
zufuhr die verschiedene Erwärmung der Luftmassen bedingt. Nach H. Hildebrands-
sons Untersuchungen wissen wir, daß im Frühjahr auf dem europäischen Kontinent
die Wanderung der Isotherme von 0° C eine östliche bzw. nordöstliche Richtung
einhält, während die 9 °-Isotherme eine südnördliche. Beinahe könnte man behaupten,
es läuft alles durcheinander. Daß es sodann schwer wird, richtige Linienzüge heraus
zuschälen, ist erklärlich. In weiterer Folge erkennt man, auf wie schwankendem
Boden sich manches Kartenbild aufbaut. J. Hann sagt nicht ohne Grund: „Demnach
1 A. Supan: Grandzüge der Physischen Geographie. 6. Aufl. Leipzig 1916, S. 97.
2 F. W. Putzgers Karten in Physik.-stat. Atlas des Deutschen Reichs, hg. v. R. Andree
u. O. Peschei. I. Bielefeld u. Leipzig 1876, T. 2—5.
3 Alex. Woeikow: Hanns Atlas der Meteorologie. P. M. 1887, S. 355ff.
4 J. Hann: Zur Konstruktion der Isothermen. P. M. 1888, S. 55.
5 Vgl. auch K. Knoch: Der Einfluß geringer Geländeverschiedenheiten auf die meteorologischen
Elemente im norddeutsch. Flachland. Abh. des Kgl. Preuß. Meteor. Inst. Nr. IV. Berlin 1911.
8 B. Cotta: Briefe über A. v. Humboldts Kosmos. I. Leipzig 1855, S. 284, 285.