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Die organische Welt im Kartenbild.
Atlas zu seiner Anthropogeographie und Politischen Geographie herausgegeben —
die wenigen Kartenskizzen in den Werken genügen nicht —, hätte sicher der ideen
reiche Inhalt gewonnen und manche Verschwommenheiten und Wiederholungen
hätten sich von allein aufgeräumt. Eine gute Karte ist, was ich an dieser Stelle be
sonders betonen möchte, ein ausgezeichnetes Mittel, seine Gedanken zu ordnen und
klar zum Ausdruck zu bringen. Meine Ansicht finde ich durch die Worte G. Gerlands
bestätigt: „Sie (die kartographische Darstellung) duldet keine Lücken, nichts Un
ausgesprochenes. Wie leicht schlüpft der Schriftsteller über so manche Dinge hin:
in der Zeichnung muß alles klar, zusammenhängend, scharf und bestimmt sein.
Das ist um so schwerer, je ausgedehnter der zu beherrschende Stoff, je weniger er
in allen Teilen durchgearbeitet ist.“ 1 Daß Ratzel so wenig auf eigene kartographische
Produktionen Wert gelegt hat, ist vielleicht bei dem Ideenreichtum, der ihm zufloß,
erklärlich. Mir scheint, als ob er den zweiten Band von Heinrich Bergbaus’ Physi
kalischem Atlas, Gotha 1848, nicht gekannt habe, worin die siebente Abteiluug
„Anthropographie“ heißt. Hier sind gewissermaßen in nuce die Grundgedanken
veranschaulicht, denen er später — allerdings ganz unabhängig von dem Atlas —
beredten Ausdruck verlieh. 1 2
II. Völkerkarten.
166. Die Völkerverteilung. Um zu einer Übersicht über die Verteilung der
Völker und deren Kultur zu gelangen, gebt die allgemeine Geographie des Menschen
in zwei Richtungen vor. Einmal achtet sie auf sichtbare und hörbare Merkmale
des Menschen, das andere Mal auf die Willensäußerungen und -betätigung. Auf der
einen Seite haben wir somit die Völker-, Sprachen- und verwandte Karten, auf der
andern die historischen, politischen, administrativen, ethischen, wirtschaftlichen,
medizinischen und kunsthistorischen Karten. Beide große Kartengiuppen sind ver
einigt in den Karten der Kulturformen und der Kulturkreise.
Da die Anthropogeographie in der Mitte zwischen Erd- und Völkerkunde steht,
sind die reichen Zuflüsse erklärlich, die sie von der beschreibenden wie von der ver
gleichenden Völkerkunde erhält. Die Karten nach diesen Strömungsgebieten zu
1 G. Gerland: Atlas der Völkerkunde. VII. Abt. zu Bergbaus’ Physikalischem Atlas. Gotha
1892, Vorbemerkungen S. 3.
2 Sollte nicht auch die Bezeichnung „Anthropogeographie“ auf „Anthropographie“ zurück
zuführen sein? Hat letztem Ausdruck nicht auch J. Spörer gebraucht (G. J. III, Gotha 1870,
S. 271)? Ratzel hat uns, soweit mir bekannt ist, darüber nichts hinterlassen, auch habe ich mich
merkwürdigerweise seinerzeit nicht mit ihm über den Ursprung des Wortes unterhalten. „Anthropo
graphie“, die kürzere Form für Anthropogeographie, ist jedenfalls ebenso berechtigt wie Ethnographie.
Mit dem eingeschobenen „Geo“ wird zwar deutlich auf den geographischen Boden hingewiesen, nötig
aber ist es nicht. Neuerdings hat Eug. Oberhammer gefunden (Fr. Ratzel, Pol. Geogr., 3. Aufl.
v. Eug. Oberhammer, München u. Berlin 1923, S. 608, Anm. 2), daß die Bezeichnung Anthropo
geographie in dem sonst mathematisch gefärbten Artikel „Erde“ von Kämtz in der Allgemeinen
Enzyklopädie (hg. v. J. S. Ersch u. J. G. Gruber, Leipzig 1842, S. 273) belegt ist. Der Aufsatz von
Kämtz, den ich in der Berliner Staatsbibliothek einsah, gibt folgende Einteilung der physikalischen
Geographie: 1. Geognosie u. Geologie, 2. Hydrographie, 3. Meteorologie, 4. naturhistorische Geogr.
und 5. Anthropogeographie. Es heißt daselbst: „Will man den Menschen nicht mit zu den Tieren
rechnen (4.), so kann man noch einen besondern fünften Teil, die Anthropogeographie, bilden,
welcher namentlich den Einfluß zu betrachten hat, welchen die äußern Naturverhältnisse auf die
körperliche und geistige Beschaffenheit des Menschen ausüben.“