Grundlagen der Kartenästhetik.
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251. Richtlinien zur ästhetischen Beurteilung der Karten. Erkennt man in der
Karte irgendeine Art künstlerischen Erzeugnisses, wird das Werturteil über es teils
wissenschaftlicher teils ästhetischer Natur sein. Die eine Seite kennen wir bereits
zur Genüge; mit der andern, der ästhetischen, wollen wir uns noch vertrauter machen.
Auf dem Boden einer modernen Ästhetik stehend, wird man bei der ästhetischen
Beurteilung der Karte jede transzendentale oder metaphysische Voraussetzung
verschmähen und die Gesetze des kartographisch künstlerischen Schaffens und Ge-
nießens lediglich aus den Tatsachen der Genesis der Karte selbst entwickeln. Die
Psychologie geht dabei helfend zur Hand. Jedoch geht die Ästhetik nicht in der
Psychologie auf, da sie ebensosehr wie eine psychologische eine normative Wissen
schaft ist und ein Sollen ausspricht. Gerade in der Kartographie läßt sich bald mehr
als in andern Gebieten sagen, daß die Ästhetik auf Werturteilen beruhe. Die ästhetischen
Werturteile werden von den Gefühlen bestimmt, die das Betrachten von Karten in
uns auslöst. Die Gefühle sind teils Lust-, teils Unlustgefühle. Wenn man sagt, daß
diese oder jene Karte ästhetisch befriedigt, kommt darin das Lustgefühl zum Aus
druck. Der ästhetische Genuß ist in der Ästhetik von jeher besonders stark betont
worden.
Die ästhetischen Lustgefühle treten in zwei Formen auf, in der produktiven
und in der rezeptiven. Die erstem werden als künstlerisches Schaffen, die letztem
als Kunstgenuß bezeichnet; jene sind in der Hauptsache dem praktischen Karto
graphen eigen, diese dem Kartenbenutzer; jene verfallen weniger der kritischen Sonde
als diese und können auch weniger Gegenstand der Untersuchung sein; obwohl beim
Schaffen der Karte viele künstlerische Momente offenbar werden. Denn zunächst
vertieft sich der wissenschaftlich geschulte Kartograph in seine kartographische Auf
gabe, er sammelt und studiert, weitverzweigte Korrespondenzen verbinden ihn mit
Wissenschaftlern, Reisenden, Forschern; allmählich gestaltet er das problematische
Gebiet als ein Ganzes heraus; mit der Freude eines Künstlers sieht er sein Werk
wachsen, vollenden, sich abrunden und Beifall finden.
Empfindet man beim Betrachten der Karte einen Genuß, sagt man allgemein
auch: Die Karte wirkt schön, sie ist schön. Das ,,Schön“ zu definieren ist sein-
schwierig. Schon der jetzt herrschende Sprachgebrauch belegt alles Mögliche und
Unmögliche mit „schön“. Dazu gesellt sich die Verschiedenheit des Geschmacks
der einzelnen Beurteiler. Gewiß ist das Urteil über das Schöne eine Machtfrage, aber
dennoch läßt sich mit I. Kant auch eine Antinomie des Geschmacks aufstellen; denn
dem Satz, daß jeder seinen eigenen Geschmack habe und sich daher nicht über den
Geschmack disputieren lasse, läßt sich nach seiner Überzeugung mit gleichem Rechte
der Satz, daß sich über den Geschmack gar wohl streiten läßt, gegenüberstellen. Ein
gewisser entwicklungsgeschichtlicher Standpunkt ist auch bei der Beurteilung des
Schönen nicht außer acht zu lassen, und Konzessionen sind dem Geschmack der
Menge einzuräumen. 1
Während aber das sogenannte Kunstgesetz aller Kunstgesetze, das Gesetz
der künstlerischen Einheit für die moderne Ästhetik mehr als diluvianische
Weisheit, als eine abgetane Panazee gilt, behält das Gesetz der Einheit für die Ästhetik
1 Bereits A. Dürer bekannte dies mit den Worten: „Was zu den menschlichen Zeiten van
dem meinsten Theil schön geacht würd, des soll wir uns fleißen zu machen. Was alle Welt für schön
acht, das wollen wir auch für schön halten und uns des fleißen zu machen.“