Full text: Die Kartenwissenschaft (2)

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Ästhetik und Logik der Karte. 
der Karte seine Vollgültigkeit ; denn es ist, was allerdings in der reinen Kunstästhetik 
nur zu oft übersehen wurde, ein kunstwissenschaftliches Gesetz, die Betätigung einer 
reinen wissenschaftlichen Verstandesbetrachtung, die wir auf die Kunst der Karte 
anwenden. Die Tätigkeit des Verstandes, der abstrahierenden Wissenschaft und 
Mathematik sind darauf gerichtet, der künstlerischen Erscheinungswelt der Karte 
zugleich eine Eins- und Zahlwelt, eine Welt des Messens entgegenzustellen. Das 
Gesetz der künstlerischen Einheit bedeutet hei der Karte in Wahrheit nichts anderes 
als die Umformung einer Kunstwelt in eine kunstwissenschaftliche Welt, eine Be 
trachtung der Kunst durch das Glas der Wissenschaft, durch die Verstandesbrille. 
Bei der Kritik des Kartenkunstwerkes wird zweifellos ein Sezieren und Zerteilen 
stattfinden; anders bei einem Werke der reinen Kunst, dem dadurch nur zu oft die 
Seele entrissen wird. Hier stoßen wir auf die differenzierenden Sphären der Ästhetik 
der Kartenwissenschaft und der reinen Kunstwissenschaft. Das Einheitsgesetz, nach 
dem alle Teile des Werkes bestimmt geregelte Glieder eines organischen Ganzen sind, 
erhält für die Kartenästhetik eine Kraft, durch die es die Karte regieren und be 
herrschen, ihr Schaffen bestimmen kann und soll. Für die Karte hat es das Zwingende 
eines kategorischen Imperativs. 
Auf dem Gesetz der Einheit beruht die wohltuende Harmonie, die von wohl 
gelungenen Kartenbildern ausklingt, die zu rühmen schon E. v. Sydow Gelegenheit 
fand. 1 Selbst die Wahl betreffs Größe, Stellung und Verteilung des Titels, des Maß 
stabs, der Erklärungen unterliegt dem Gesetz der Einheit. Nichts Zufälliges oder 
das Auge Beleidigendes darf das Kartenbild enthalten; das würde den angenehmen 
Totaleindruck verletzen. Trotzdem dürfen sich selbst kleine irgendwie wichtige 
Punkte nicht missen lassen. Die Karten leiden gewöhnlich mehr an Überfülle als 
an Leere, und Klagen über den „embarras de richesse“ begegnen wir oft 1 2 und ver 
stummen heute noch nicht. 
Immer mehr führen uns die Untersuchungen in eine Ästhetik der Karte ein, 
von der als einem selbständigen Betrachtungsgebiet in der Kartographie, bzw. Karten 
wissenschaft zu reden, bis jetzt noch kaum der Versuch gemacht worden ist. Wohl 
hat man hin und wieder von den durch die Karte geweckten ästhetischen Gefühlen 
gesprochen. Bei der Beurteilung der Schweizer Karten von J. M. Ziegler spricht 
E. v. Sydow von der „malerischen Wirkung“ der Karten-Landschaftsbilder 3 , in den 
Begleitwoiten zu C. Vogels Übersichtskarte der deutschen Eisenbahnen H. Wagner von 
dem „ästhetischen Gefühl“ 4 , in der Beurteilung des neuen Stieler derselbe Autor von 
„ästhetischem Genuß“ 5 , in der Vita über Adolf Stieler Fr. Ratzel von der „ästhetischen 
Seite“ der Karte. 6 Von jeher sind den deutschen Karten, insbesondere den J. Perthes- 
schen l’harmonie des couleurs et le goût arstistique nachgerühmt worden. 7 
1 E. v. Sydow: Der kartogr. Standpunkt Europas v. J. 1866—1869. P. M. 1870, S. 62 über 
die Topografisk Kart over Kongeriget Norge 1 : 100000, u. S. 177 über den Topographischen Atlas 
über das Großherzogtuni Baden 1 : 50000, in 55 Bl., vom Jahre 1838—1849. 
2 So z. B. durch F. Wieser über J. S. Gerster: Handkarte von Vorarlberg u. angrenzenden Ge 
bieten. 1 : 175000. Bregenz s. a., in dem Geograph. Jahresbericht über Österreich, I, 1894. Wien 1897. 
3 E. v. Sydow: Der kartogr. Standpunkt Europas i. d. J. 1865 und 1866. P. M. 1867, S. 145. 
4 H. Wagner: Die Entwicklung des deutschen Eisenbahnnetzes. P. M. 1873, S. 226. 
5 H. Wagner in P. M. 1904, S. 8. 
6 Fr. Ratzel in dem Lebensumriß über Ad. Stieler in der Allgemeinen Deutschen Biographie. 
7 L’explorateur, Paris 1875, Nr. 30. Die geographische Ausstellung in Paris, 15. Juli bis 
16. Sept. 1875. Vgl. auch P. M. 1876, S. 61.
	        
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