Grundlagen der Kartenästhetik.
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252. Historische Elemente einer Kartenästhetik. Bei einem Gang durch die
Geschichte der Karte vom Ausgange des Mittelalters an bis zur Gegenwart und
bei einem Einblick in die didaktisch und methodisch sich steigernden Kartenwerke
erkennt man eine Entwicklung von dem mehr Sinnfälligen zu dem Abstrakten, von
dem allgemein Verschwommen zu dem wissenschaftlich Exakten, von dem Erd-
gemälde zum Konstruktionsbild. Nicht selten kommt die Ästhetik bei der Beurteilung
älterer Kartenwerke mehr als bei neuern auf ihre Kosten. Der Einsicht des naiven
Menschen liegen die alten Erdgemälde näher als unsere heutigen Karten. Diese setzen
ein gut Teil Kenntnis der kartographischen Symbole voraus. In dem achtzehnten
und den vorhergehenden Jahrhunderten war das abstrakte Denken noch nicht so
verallgemeinert wie in unserer fortgeschrittenen Zeit. Früher mußte mehr zu Be
friedigung der Anschauung geboten werden als heutigestags, gewiß auch in der
Hoffnung und Absicht, die Kauflust beim Publikum zu erhöhen. In der Farben
gebung können alte Karten selbst neuesten Erzeugnissen als Muster empfohlen
werden; obwohl unverkennbar ist, daß die Freude an Farbe und Schmuck heute eine
größere als vor dreißig und mehr Jahren ist.
Bei den alten Karten war offenbar der Horror vacui sehr bestimmend, die
Karte mit vielartigem Beiwerk, mit Parerga, Kartuschen und allerhand anderm
Gefüllsel, wie Schiffen, Menschen, Tieren usw. auszuschmücken. Wurde hinwiederum
auf dieses Füllmaterial verzichtet, hatte man mit den damals gebräuchlichen Berg
zeichnungen einen Notbehelf. Das so wenig bekannte Afrika wurde gern mit Bergen
überfüllt, die v T ier- bis fünfmal höher als die europäischen Berge gezeichnet wurden 1 ,
ganz dem naiven Schönheitsgefühle jener Zeiten entsprechend. Waren in das Karten
bild dagegen viel andere Dinge, wie ein eingehenderes Flußnetz zu zeichnen, wurden
die Berge unterdrückt. Auf Karten von Europa findet man kaum die Alpen vermerkt;
dafür ließ der Kartograph, wie oben angedeutet, bei der Bergzeichnung der außer
europäischen Erdteile seiner Phantasie die Zügel schießen.
Die leeren Flecke auf den Karten verletzen auch heute noch unser ästhetisches
Gefühl. Das bringt H. Wagner in den schon oben genannten Begleitworten zu 0. Vogels
Übersichtskarte der deutschen Eisenbahnen 1 2 mit folgenden Worten zum Ausdruck:
,,Dennoch wird man auf der Karte noch manche Lücken finden, noch große Maschen,
welche unser ästhetisches Geiühl durch Querlinien verkleinert sehen möchte, ein
Gefühl, sagen wir, welches nach einer möglichst gleichartigen Verteilung geographischer
Elemente strebt, — wie beispielsweise diese ästhetische Dichtung l)is in die neueste
Zeit die Auswahl der auf einer Karte einzutragenden Orte bedingte. In sehr vielen
Fällen werden die Wünsche des geographischen Ästhetikers unerfüllt bleiben, da sie
den reellen Verhältnissen zu wenig entsprechen.“ Und die das ästhetische Gefühl
irritierenden weißen Kartenflecken haben von jeher den menschlichen Forschungstrieb
beschäftigt und ihn angereizt, die Schleier über die unbekannten Erdteile zu lüften.
Sie haben in hohem Grade die gesamte Forschungsgeschichte gefördert und gelenkt.
Bastlos sind seit der columbanischen Zeit Jahr um Jahr die weißen Flecke verringert
und getilgt worden. Die letzten großen Leeren unserer Karten zu beseitigen ist den
großen Polarexpeditionen unseres Jahrhunderts Vorbehalten und teilweise auch gelungen.
1 Eine derartige Übertreibung findet re an z. B. auf der Erdkarte von Fries: Descrittione
universale della terra con luso del navigare novam e aeerescinta (etwa 1 : 24000000). Venedig 1048 ( ?),
1662. [K. Bi. Dresden.]
2 H. Wagner i. P. M. 1873, S. 220.