Stellt man sich die Erde wieder als eine Kugel vor und denkt
sich durch irgend einen Punkt L der Oberfläche und den Mittel
punkt C eine Ebene gelegt, welche nach §. 5 lothrecht ist, so
schneidet diese Ebene die Kugelfläche nach einem grössten Kreise,
welcher auf allen in ihm liegenden lothrechten Linien, da sie
Halbmesser sind, senkrecht steht. Dieser Kreis heisst die wahre
Horizontallinie des Punktes L, und eine Berührende an den
Kreis in diesem Punkte dessen scheinbare Horizontallinie.
Da nun durch die Punkte L und C unendlich viele lothrechte
Ebenen gelegt werden können, so gibt es auch unendlich viele
wahre und scheinbare Horizontallinien eines Punktes (L). Denkt
man sich aber alle wahren Horizontallinien zu einer krummen, und
alle scheinbaren Horizontallinien zu einer ebenen Fläche verei
nigt, so heisst die erstere, welche eine der Erdgestalt concen-
trische Kugelfläche ist, der wahre Horizont, und letztere, welche
den wahren Horizont berührt, der scheinbare Horizont des
Punktes L.
Die scheinbaren horizontalen Linien oder Ebenen zweier Punkte
L und IV, welche um den Erdbogen b von einander abstehen, schnei
den sich, wie man leicht einsieht, unter einem Winkel C, der sich
aus der Gleichung (2) ergibt. Es dürfen somit dieHorizontal-
ebenen nahe gelegener Punkte in den meisten Fällen
als parallel angenommen werden, und wenn es z. B. auf
einen Neigungswinkel von 4 Minuten nicht ankäme, sogar noch die
Horizontal ebenen zweier Punkte, die eine geographische Meile von
einander entfernt sind.
Betrachtet man die Erdoberfläche als Ellipsoid, so stellt zwar
die Berührungsebene in irgend einem Punkte L dessen scheinbaren
Horizont vor, aber der wahre Horizont ist jetzt keine Kugelfläche
und die wahre Hörizontallinie kein grösster Kreis mehr. Jener wird
unter dieser Annahme ein Umdrehungsellipsoid, dessen Axen mit
denen der Erde zusammenfallen, und diese eine Curve von dop
pelter Krümmung, welche die geodätische Linie heisst. Unter
anderen Eigenschaften besitzt diese Curve die, dass sie die kürzeste
Linie ist, welche man auf dem Erdellipsoid von einem Punkte zu
einem anderen ziehen kann. In der höheren Analysis und bei ge
nauen Bestimmungen der Erdgestalt wird das Wesen der geodätischen
Linie näher erörtert.