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Vierzehnter Abschnitt.
Geschichtlicher Ueberblick.
'Wenn wir uns die Frage vorlegen, an welchen Punkten
unsers Erdkörpers die wissenschaftliche Cultur am frühesten
begonnen habe, so treffen wir auf 4 weit von einander entlegene
Lokalitäten: das mittlere China, Bengalen, Babylon und Unter-
Egypten. An den drei ersten Punkten gewahren wir grosse
Zwillingsströme vereinigt dem Meere zueilen: Hoangho und
Yantsekiang, Ganges und Buremputer, Euphrat und Tigris ; an
letzterem das Nil-Delta, das einem einzigen Strome seine Ent
stehung dankt. Offenbar hat die grosse Fruchtbarkeit diese
Lokalitäten besonders begünstigt; in ihnen ward es dem Menschen
geschlecht leichter die Bedürfnisse seines physischen Daseins
sich zu verschaffen, und es gewann Zeit für die geistigen Ar
beiten, zumal sich früh genug der innige Zusammenhang heraus
stellte, der das Geistige mit dem Körperlichen verband und
eins durch das andere förderte.
Nicht allein besitzen wir keine Nachricht über noch andere
früheste Mittelpunkte der Cultur, sondern eine geographische
Ueberschau der Erdoberfläche lässt uns nirgend Lokalitäten
finden, die klimatisch wie topographisch sich einer gleichen
Begünstigung als die vier oben genannten zu erfreuen hatten.
Das Mündungsgebiet des Mississippi wie die der grossen Zwillings
ströme Südamerika’s sind wohl überhaupt neueren Ursprungs,
wenigstens was ihre gegenwärtige Gestalt betrifft; sie waren
überhaupt auch klimatisch weniger geeignet für das Wohlbe
hagen, was in der alten Welt (die auch wohl mit vollem Rechte
so heisst) möglich war.
Nichts spricht für einen früheren Zusammenhang jener alten
Culturvölker. Sie wissen nichts von einander, ihre Sprachen
sind grundverschieden, wie nicht minder alle ihre Einrichtungen
und Gewohnheiten, ihr Staatswesen, ihr Cultus und selbst ihre
Gesichtsbildung. Jedes von ihnen behauptet, ursprünglich in
diesem Lande gewohnt zu haben, jedes nennt sich das älteste
aller Völker. Wir untersuchen hier nicht, wieviel von den
Hunderttausenden und Millionen von Jahren, die sie bean-