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Ladislaus v. Bortkiewicz,
Ob nicht in Folge einer gewissen Geringschätzung- des algebraischen
modus procedendi überhaupt, wie sie sich bei Leibniz verschiedentlich * 1 ) und ins
besondere auch in dem oben zitierten Passus (S. 63—64) dokumentiert? Dort heißt
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es, daß die Ableitung der Formel — ; —■ mittelst Aufstellung einer unendlichen
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Reihe ein Beispiel dafür bietet, wie die Analysis im Gegensatz zur Algebra, welche
unbekannte Größen wie bekannte behandelt, durch Operationen, die sie an lauter
bekannten Größen vornimmt, den gesuchten Wert der Unbekannten direkt findet 2 ).
Man könnte auch meinen, daß, sofern die Diskontierung einer nach
mehreren Jahren fälligen Summe in Frag'e kommt, es Leibniz daran gelegen
hätte, zu zeigen, daß auch in diesem speziellen Fall die Kombinatorik gute
Dienste leistet War doch letztere das ureigenste Gebiet seines Könnens und
Schaffens. Ohne viel Übertreibung könnte man sagen, daß sein ganzes mathe
matisches Denken, ja, zum Teil sein Denken überhaupt, an der Kombinatorik
orientiert war 3 ).
Man würde aber fehlgehen, wollte man die Anlage und den ganzen Gang
der Argumentation in der Meditatio juridico-mathematica aus der Vorliebe des
des Rentennehmers ohne jegliche Begründung nach Gutdünken anzunehmen und in Rechnung zu ziehen“.
Daß es aber von Leibniz falsch war, überhaupt die „voraussichtliche Lebensdauer“ zur Bestimmung der Leib
rentenwerte heranzuziehen, sagt Cantor nicht!
1) Siehe Couturat a. a. O. S. 285 — 294.
2) Es braucht kaum eigens hervorgehoben zu werden, daß dieser Gegenüberstellung von Algebra
und Analysis der engere Begriff der Algebra zugrunde liegt, demzufolge sie sich ausschließlich mit Auf
lösung von Gleichungen beschäftigt. Sonst versteht Leibniz unter Algebra einen viel weiteren Begriff. Ihr
„primarium officium“ bestehe zwar in Auflösung von Gleichungen (Nova Algebrae Promotio, Gerhardts Aus
gabe, S. 158), aber an sich sei sie „nihil aliud quam scienlia numerorum indefinitorum seu generalium, et
eundem plane modum procedendi habet quam arithmetica communis“ (De ortu, progressu et natura Algebrae,
ibidem, S. 203). In bezug auf die Gegenüberstellung von Algebra und Analysis in dem betreffenden Passus
der Meditatio juridico-mathematica sei noch bemerkt, daß, vom Standpunkte der (Leibnizschen) Logik aus
gesehen, die Ableitung der Diskontierungsformel durch Aufstellung einer unendlichen Reihe, also mit Hilfe
der „Analysis“, eine synthetische Operation darstellt, während die Ableitung derselben Diskontierungsformel
aus einer Gleichung, also mit Hilfe der „Algebra“, als analytische Operation zu charakterisieren wäre.
Ist doch die Algebra für Leibniz eine Inkarnation der analytischen Methode, wie Couturat (a. a. O. S. 265
bis 273) sich ausdrückt. Siehe auch De Synthesi et Analysi universali seu Arte inveniendi et judicandi
(Philosoph. Schriften von Leibniz, ed. Gerhardt. VII. Bd. Berlin 1890, besonders S.' 296—297) und Nouveaux
Essais sur l’entendement humain (dieselbe Ausgabe, V. Bd. Berlin 1882. S. 432).
3) Über die Ars combinatoria siehe z. B. De ortu progressu et natura Algebrae, S. 205. Vgl.
Cantor, Geschichte der Mathematik, III, S. 107, 321 und Couturat a. a. O. Chap. VII und Appen-
dice III. Insbesondere hat Leibniz die Kombinatorik für Probleme der Zahlentheorie, der Algebra, der
Infinitesimalrechnung zu verwerten verstanden und es ist überraschend, daß er zur Weiterbildung derjenigen
mathematischen Disziplin, die wohl am innigsten mit der Kombinatorik verbunden ist, nämlich der Wahr
scheinlichkeitsrechnung, nichts beigesteuert hat. Vgl. Cantor a. a. O, S. 338—342 und Couturat
a. a. O. S. 244.