48
Erster Teil. Differential-Rechnung.
abnimmt, und dies findet nur im Falle der Stetigkeit in der
{übrigens beliebig engen) Umgebung von x statt. Dagegen
ist diese Stetigkeit kein zureichendes Merkmal dafür, daß an
der Stelle x ein Differentialquotient existiert. Als Beispiel diene
die Funktion f(x) = x sin die für alle Werte von x definiert
ist mit Ausnahme von x = 0; sie verhält sich aber auch an
dieser Stelle wie eine stetige Funktion, wenn man f(0) = 0
festsetzt, weil lim f(x) = 0 ist [18, 1]. Der Grenzwert des
+ o
Differenzenquotienten an der Stelle x = 0 ist aber
h sin *— 0
lim t = lim sin -v-,
ä = + 0 " h = ± o h
also völlig unbestimmt [18, 5]; daher existiert an dieser Stelle
kein Differentialquotient.
Es ist gelungen, Funktionen analytisch zu definieren,
welche trotz ihrer Stetigkeit an unzählig vielen, ja selbst an
allen Stellen keinen Differentialquotienten zulassen. Indessen
genüge hier die bloße Anführung dieser Tatsache.*)
22, Phoronomische und geometrische Bedeutung
des Differentialquotienten. Sobald man das Gebiet der
Anwendungen der Analysis betritt, sind x und f(x) die Maß
zahlen für irgend welche voneinander abhängige Größen und
je nach der Bedeutung dieser letzteren erlangt auch der Diffe
rentialquotient verschiedene sachliche Bedeutung. An dieser
Stelle sollen jene zwei Fälle besprochen werden, von welchen
die Differentialrechnung ihren Ausgang genommen und die für
zwei große Gebiete von grundlegender Bedeutung sind: für
die Phoronomie**) und die Geometrie.
1) Es sei x die von einem bestimmten Augenblicke an
verflossene Zeit, welche ein in gerader Linie sich bewegender
Punkt gebraucht hat, um den Weg f{x) zurückzulegen; dann
ist f(x -}- h) der in der Zeit x + h vollendete, somit
*) Literaturangaben über derartige Funktionen findet man in E. Pas
cals Repertorium der höheren Mathematik, deutsch von A. Schepp,
I. T., S. 110—111, Leipzig 1900.
**) Reine Bewegungslehre, die die Bewegungsvorgänge nur nach
Raum und Zeit betrachtet.