404
ANALYSIS. NACHLASS.
specielle Erörterung ich hier mich nicht einlassen will, gehört auch der ver
kehrte Gesichtspunkt, aus welchem man die jetzt sogenannten imaginären
Grössen so lange betrachtet hat. Wir sehen dieselben zuerst unter dem
Namen von unmöglichen Grössen auftreten bei denjenigen quadratischen Glei
chungen, wo die Auflösung die Ausziehung der Quadratwurzel aus einer nega
tiven Grösse erfordert. In so weit enthielt der Ausdruck, dass die Wurzeln
der Gleichung unmöglich seien, eigentlich nichts weiter als eine Verneinung
der Existenz von Wurzeln. Späterhin machte man die Bemerkung, dass auch
bei algebraischen Gleichungen von hohem Graden in solchen Fällen, wo sie
entweder gar nicht auflösbar waren oder wenigstens nicht eine ihrem Grade
gemässe Anzahl von Wurzeln darboten, die Unauflösbarkeit oder Unvollzählig
keit der Auflösungen immer nur von der Unmöglichkeit, aus einer negativen
Grösse eine Quadratwurzel zu erhalten, abhing, und d’Alembert und Euler
generalisirten diese Bemerkung (dem Wesen nach, wenn auch nicht in dieser
klaren Ausdrucksweise) dahin, dass es nur der Zulassung einer fingirten Grösse
\J— 1 bedürfe, um jeder entwickelten algebraischen Gleichung die ihrer Ord
nungszahl gleiche Menge von Wurzeln zu verschaffen. Ein genügender strenger
Beweis dies[es] wichtigsten Lehrsatzes in der Theorie der algebraischen Glei
chungen ist zwar erst viel später gelungen; aber schon von jener Zeit an
wurde es immer mehr üblich, die unschicklichen Benennungen von unmög
lichen Grössen fahren zu lassen, und die jene fingirte \J — 1 involvirenden
Grössen imaginäre zu nennen, im Gegensatz der reellen, unter denen man die
Totalität aller positiven und negativen begriff. Seit der Zeit sind die ima
ginären Grössen, wie eine besondere Gattung von Grössen, in den analytischen
Calcul aufgenommen, und man hat sich wohl dabei gestanden, indem ihre
Beihülfe sehr häufig auf eine überraschend leichte Art zu einem Ziele führt,
welches ohne sie nur viel mühsamer sich erreichen lassen würde, oder indem
ihre Zuziehung mancher mathematischen Lehre, die, wenn sie bloss auf das
Gebiet der reellen Grössen beschränkt werden müsste, nur ungelenk und
lückenhaft erscheinen würde, die schönste Abrundung gibt.
Bei allem dem sind die imaginären Grössen, so lange ihre Grundlage
immer nur in einer Fiction bestand, in der Mathematik nicht sowohl wie ein
gebürgert, als viel mehr nur wie geduldet betrachtet, und weit davon ent
fernt geblieben, mit den reellen Grössen auf gleiche Linie gestellt zu werden.