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GEOMETRIE. NACHLASS.
Von einer andern Seite läßt sich zeigen: daß wenn es möglich, daß eine gerade Linie Zweige
habe, sie derselben unendlich viele, und auch der Raum unendlich viele Dimensionen haben
würde. Auf gewisseWeise könnte man sagen, daß auch in Ihrer, der anti-euklideischen Geometrie, der
Raum unendlich viele Dimensionen habe, die aber alle wieder im unendlichen liegen. Nämlich es sei BAG
ein rechter Winkel, AD die Constante für das rechtwinklichte asymptotische Dreieck, dessen anderer Winkel
= 45°; der rechte Winkel BAG werde durch AD halbiert, dann ließe sich dieselbe Construction durch
DE, EF u.s.w. an den Punkten D, E, F u.s.w. wiederholen, ohne daß die Linie A C jemals erreicht würde,
— und dieses auf analoge Art räumlich gedacht gäbe innerhalb des von drei rechtwinklichten Ebenen be-
gränzten Raumes körperliche Ecken, welche zuerst durch 3 Ebenen von 4 5° Oeffnung begränzt, der Reihe
nach durch eben so viel Körper von der Dimension 3, 4, 5 u.s.w. bis oo, begränzt gedacht werden könnten.«
Auch der Brief von Gauss an Grassmann vom 14. Dezember 184 4 (siehe oben S. 4 36) ist in diesem
Zusammenhang zu erwähnen; sagt doch Gatjss darin, dass Grassmanns Tendenzen teilweise denjenigen
Wegen begegneten, auf denen er selbst nun seit fast einem halben Jahrhundert gewandelt sei, und bezeichnet
er als ein Zeugnis für diese Bestrebungen die oben erwähnte Selbstanzeige vom Jahre 1831. Man vgl.
hierzu auch noch die Andeutungen im art. 5. der Beiträge zur Theorie der algebraischen Gleichungen vom
Jahre 1849, Werke III, S. 79*).
Eine weitere, ausgiebigere Quelle ist A. Ritter (1826—1908), der von Michaelis 1850 bis 1853 in
Göttingen studiert hat und 185 3 unter Gauss mit einer Abhandlung lieber das Princip des "kleinsten
Zwanges promoviert worden ist. Daß die unter [I.] abgedruckten, den siebenten Abschnitt der Dissertation
bildenden Ausführungen auf Anregungen von Gauss zurückgehen, würde nur den Wert einer Vermutung
haben, wenn nicht der auf der Bibliothek der Technischen Hochschule zu Aachen aufbewahrte handschrift
liche Nachlaß Ritters die Ausarbeitung einer Vorlesung über die Methode der kleinsten Quadrate enthielte,
die dieser im Wintersemester 1850/51 bei Gauss gehört hat. Den Schluß der Handschrift bildet nämlich
die unter [II.] abgedruckte Notiz, die, wie es scheint, den Inhalt der beiden letzten Vortragsstunden
wiedergibt.
Ob Ritter die Gedanken von Gauss überall richtig aufgefasst hat, muß dahingestellt bleiben;
immerhin macht gerade die Stelle, die sich auf Mannigfaltigkeiten von n Dimensionen bezieht, einen Ver
trauen erweckenden Eindruck. Die Behandlung des Minimumsproblems ist in verschiedener Beziehung
unvollständig. Es genüge hier zu bemerken, daß man nicht immer Punkte finden kann, für die n der
Ausdrücke u u ..., u m verschwinden, während gleichzeitig die andern m — n positiv ausfallen. Zum Beispiel
verschwinden für n — 3 und m — 8, wenn es sich um das Innere eines von acht Dreiecken begrenzten
Achtflächers handelt, in jeder der sechs Ecken vier der Ausdrücke u u ..., u 8 . Im übrigen vergleiche man
den in der zweiten Abteilung dieses Bandes abgedruckten Aufsatz »Gauss als Geometer«.
Stäckel.
*) Die von Gauss begehrte Lehre von den »nach der Stetigkeit zusammenhängenden Größencombi-
nationen« hat Riemann in dem Habilitationsvortrag vom 10. Juni 1854 begründet, RlEMANNS Werke, 2. Auf!.,
S. 272. Bei der Entwicklung des Begriffs mehrfach ausgedehnter Größen verweist Riemann (a. a. O. S. 273
ausdrücklich auf die oben im Text genannten Veröffentlichungen von Gauss.