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Zur Kritik des Yaihingerschen P i k t i o u s b e g r i f f s
Vaihinger wesentlich abweichen. An das Vorige schließen sich
die Äußerungen von E. Tischer 223 ) unmittelbar an. Er sieht
in den mathematischen Fiktionen das transzendentale Zwi
schengebiet zwischen Sinnlichkeit und Verstand, zwischen An
schauung und Denken 224 ). So sagt er 225 ): Die verknüpfenden
Fäden zwischen Intellekt und Sinnenreiz, das sind die Fik
tionen. Nachher aber bemerkt er 226 ): „Sind die mathematischen
Objekte und ihre Beziehungen zueinander einmal als Idea
lisierungen oder Fiktionen, als Produkte unserer
Spotaneität erkannt“ usw., und zitiert E, Müller 227 ); „Man
wurde sich klar bewußt, daß die Geometrie nicht Aussagen
über wirkliche Dinge der Außenwelt macht, sondern über fik
tive, vom menschlichen Geiste geschaffene..., über idealisierte
Dinge.“ „Nur durch diese fiktiven Annahmen erhalten die
Sätze der Geometrie ihre apodiktische Gewißheit und All
gemeingültigkeit.“
Im Gegensatz zu dieser Gleichsetzung von Idealisierung mit
Fiktion stellt A. Müller 228 ) einen neuen Fiktionsbegriff auf,
wonach die gebräuchlichen Idealisierungen den Fiktionen
nicht untergeordnet, sondern disjunktiv gegenübergestellt
werden.
Die Ausführungen von A. Müller zeigen eine viel freiere
Stellungnahme zu Vaihinger als die meisten Arbeiten in den
„Annalen der Philosophie“ und den „Bausteinen zu einer Philo
sophie des Als-Ob“. A. Müller verweist selbst am Anfang auf
die Arbeit Kronenbergs 229 ) zum Fiktionsbegriff und bemerkt,
daß hinsichtlich der Einstellung zur Mathematik auch dieser
Autor zu sehr von Vaihinger abhänge. Nach seiner Ansicht
treten bei Vaihinger drei verschiedene Wahrheitsbegriffe auf:
1. Der alte Wahrheitsbegriff, wonach Wahrheit so viel be
deutet wie Abbildung der Wirklichkeit;
2. Wahrheit und Zweckmäßigkeit gleichbedeutend;
3. Falschheit identisch mit „Undenkbarkeit“, Widerspruch.
A. Müller meint, das Wort „falsch“ der Definition könne
nicht im Sinne des zweiten Wahrheitsbegriffes gemeint sein.
Nach der Einteilung der Fiktionen bei Vaihinger seien zwei