Full text: Fiktionen in der Mathematik

Zur Theorie der Fiktionen 
IOO 
Wie soll das verstanden werden? Der Begriff wirklich muß 
doch wohl als inhaltliche Bestimmung, die Widerspruchs- 
losigkeit als formal-logische verstanden werden, wie 
soll da ein Übergang möglich sein? Einen brauchbaren Sinn 
können wir nur bei solchen Gebilden finden, deren Existenz 
einzig durch ihre Widerspruchslosigkeit gegeben ist und bei 
denen „unwirklich“ dann soviel bedeutet wie „widerspruchs 
voll“, also etwa bei den Gegenständen der reinen Mathematik 
oder Logik. Oder sollen wir Wirklichkeit in dem relativistischen 
Sinne nehmen: Das, wovon das Denken jeweils seinen Anfang 
nimmt? 
Es scheint mir aber nicht zweifelhaft, daß Vaihinger den 
engbegrenzten positivistischen Wirklichkeitsbegriff meint, 
wenn er den mathematischen Punkt, die mathematische Linie, 
die Zahl usw. ins Gebiet des Unwirklichen verweist. Es tritt 
aber noch eine andere Schwierigkeit auf. 
Wenn Vaihinger von Selbstwiderspruch redet, tnuß er not 
wendig ein gewisses verbindliches System der Logik voraus 
setzen, gegen dessen Sätze normalerweise nicht verstoßen wer 
den darf. Bei der Festlegung der Fiktionen werden sich dann 
verschiedene Möglichkeiten ergeben, je nach der Auffassung 
des Wesens des Logischen. 
a) Faßt man die logischen Sätze als empirisch und in 
duktiv auf, die Logik nur als praktische Disziplin mit dem 
obersten Prinzip der Zweckmäßigkeit, so zeigt sich schon eine 
Schwierigkeit bei Vaihinger. Sollen sich die echten Fiktionen 
dadurch herausheben, daß sie logische Fehler einschließen, so 
ist nicht ersichtlich, wie sie zugleich zweckmäßig und falsch 
sein sollen, wenn doch nach der fiktionalistischen Konsequenz 
„wahr“ und „zweckmäßig“ identische Begriffe sind. 
b) Schreibt man aber den logischen Sätzen apriorischen 
Charakter zu, so stehen noch verschiedene Möglichkeiten 
offen: 
1. Sie sind zwar apodiktisch, aber nur subjektiv, insofern 
sie in der menschlichen Organisation verankert sind (Anthro- 
pologismus).
	        
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