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Zur Theorie der Fiktionen
ändern. So finden wir beim Durchdenken der mathematischen
Beispiele, daß man in vielen Fällen jedenfalls nur dann von
Fiktionen reden könnte, wenn man an Stelle von logisch falsch
oder widerspruchsvoll logisch indifferent setzt. Wir
sind daher nicht überrascht, wenn wir bei R. Schmidt die
Feststellung treffen, statt „logisch falsch“ und „widerspruchs
voll“ sage man besser „logisch neutral“ 235 ).
Aber was für die einen Beispiele gilt, trifft nicht in gleichem
Maß für andere zu. Man kann tatsächlich doch Fälle angeben,
wo es sich um wirkliche innere Widersprüche handelt, um
logisch falsche Gebilde. Wir wollen deshalb nicht darüber
streiten, welche Charakterisierung die richtige sei, sondern
einfach zwei Fälle feststellen, die nicht miteinander verquickt
werden dürfen; beide Fälle können mit einem gewissen Recht
den Fiktionsbegriff für sich in Anspruch nehmen.
Haben wir bisher die Frage nach der Wirklichkeit streng
von der nach den logischen Verhältnissen zu trennen gesucht,
so müssen wir jetzt noch die Beziehungen von Denken und
Sein, wie sie sich in den verschiedenen erkenntnistheoretischen
Systemen spiegeln, kurz streifen. Es ist zu hoffen, daß sich
dadurch die einzelnen Fiktionstypen schärfer gegeneinander
abgrenzen lassen.
Wundt meint 236 ), alle erkenntnistheoretischen Richtungen
seien immer darin einig gewesen, daß das Denken an der
Entwicklung der Erkenntnis beteiligt sei; ebenso in der Ein
sicht, daß dem Denken dazu ein Inhalt gegeben sein müsse.
Dagegen trennten sich die Auffassungen scharf in der Beant
wortung der Frage, wie dem Denken sein ursprünglicher
Inhalt gegeben werde.
Behaupte der Empirismus, alles Wissen stamme aus
der Erfahrung, so betone der Rationalismus, daß nur
ein Inhalt wirkliche Erkenntnis hervorbringen könne, der
ebenso ursprünglich und vor aller Erfahrung gewiß sei wie
das logische Denken. Suchte der Skeptizismus die An
sprüche beider zu erledigen durch den Hinweis auf die mög
lichen Täuschungen der Sinne und Irrtümer des logischen