106
Zur Theorie der Fiktionen
objektive mehr sein. Es wird zwar eine Reihe von Fällen
geben, wo die Möglichkeit besteht, auf Grund gewisser Vor
aussetzungen Widersprüche in sich oder gegen die vorgegebene
Wirklichkeit nachzuweisen, also die Fiktivität festzustellen,
aber in wenigen Fällen wird man sich über die zulässigen
Voraussetzungen ganz einigen können; und noch schwieriger
liegt der Fall, wo der eine an die Möglichkeit der Verifikation
glaubt, der andere aber nicht und doch keine Widersprüche
aufweisen kann. So zerfließen die Grenzen zwischen Dogma,
Hypothese und Fiktion, und doch hatte es den Anschein, als
ob ganz prinzipielle Unterschiede vorliegen würden, die im
einzelnen Fall die Entscheidung außer Zweifel setzten. Diese
Tatsache gibt Vaihinger auch selbst zu, sie legt uns nahe, als
allgemeineren Fall den der Annahme einzuführen. Hier bliebe
noch unentschieden, ob es sich um Verifikation oder nur um
Justifikation handeln kann. Man kann sich ja auch durchaus
bewußt sein, daß die Frage zunächst vielleicht überhaupt nicht
entscheidbar ist. (Vgl. gewisse Axiomensysteme.) Solche Ge
bilde Hypothesen zu heißen, dürfte ebenso unzweckmäßig sein,
wie ihnen den Namen Fiktion beizulegen.
Daß H. Vaihinger, R. Schmidt und andere nicht zu dieser
Schlußfolgerung kamen, hat seinen tieferen Grund wohl darin,
daß sie einmal die Wirklichkeit nicht objektiv bestimmen,
sondern subjektiv, vom Stand unserer Erkenntnis abhängig;
sodann in der pragmatistisch-relativistischen Festlegung des
Wahrheitsbegriffs.
Wie steht es nun mit der Korrektur? Hier muß zu
nächst gegen eine starke Übertreibung Front gemacht werden.
Vaihinger meint 238 ), das Denken mache absichtlich
Fehler, um vermittelst dieser Fehler selbst das Werden zu er
fassen, und an einer andern Stelle sagt er 239 ): „Jene Wider
sprüche sind nicht bloß nicht wegzuleugnen, sondern sie selbst
sind gerade das Mittel, durch welches der Fortschritt erreicht
worden ist.“ Ähnliche Stellen, sogar noch schärfer formuliert,
ließen sich in größerer Zahl angeben.