Formen des Fiktionsbegriffs
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anderen, ganz wesentlichen Punkt berühren, nämlich das Ver
hältnis dieses Merkmals der Korrektur durch entgegengesetzte
Fehler zu dem ersten Merkmal, der Behaftung mit inneren
Widersprüchen.
Beide sind logisch nicht unabhängig voneinander. Definiert
man die Fiktion als bewußt-falsches oder widerspruchsvolles
Gebilde, so erscheint dieses dritte Merkmal nur noch als
methodologischeYorschrift für die erfolgreiche An
wendung der Fiktion, aber nicht als gleichberechtigtes kon
stitutives Merkmal, Wenn man aber, wie E. Boerma, in der
Methode der entgegengesetzten Fehler das Kernproblem der
Fiktionen sieht und dieses zum Ausgangspunkt wählt, so liegt
offenbar eine neue Definition der Fiktion vor; diese ist jetzt
methodologisch begründet und das Merkmal der Widersprüche
braucht nicht besonders angegeben zu werden. Dieser Stand
punkt scheint den fiktiven Systemen Boermas gegen
über der richtige zu sein, während seine regularisierten
Systeme der ersten Auffassung entsprechen; denn beim
regularisierten System sollen die Widersprüche in die Begriffe
selbst hereingenommen sein.
Eine wichtige Rolle spielt beim Vaihingerschen Fiktions
begriff die Frage der Zweckmäßigkeit: Fiktionen sollen
keinen Erkenntnis wert haben, sondern lediglich praktische
Hilfsmittel zur Berechnung der Wirklichkeit sein. Da nun
Vaihinger die Mathematik für die genialste Methode hält, um
das Wirkliche zu berechnen, so darf man sich nicht wundern,
daß er sie für das eigentliche Heimatgebiet der Fiktionen hält.
Aber gerade darin dürfte sich Vaihinger täuschen, daß die
Mathematik nur eine Hilfswissenschaft, eine gewisse Technik
sei; über dieses Stadium ist sie schon seit dem Erscheinen der
Euklidschen Geometrie im griechischen Altertum hinaus. Vai
hinger kennt nur den Wirkungswert der Mathema
tik und übersieht ihren Eigenwert 243 ); das hängt nach
A. Müller und E. Study damit zusammen, daß Vaihinger als
Vertreter des kritischen Positivismus nur das Sinnlich-Wahr
nehmbare als Wirklichkeit anerkennt; für ihn existieren nur