Wiederentdeckt: Erstausgabe „Das Kapital“ von Karl Marx

Im Zuge der Retrodigitalisierung an der TIB werden immer wieder unterschiedlichste Medien digitalisiert, die einen hohen wissenschaftsgeschichtlichen Erkenntniswert haben und auch sonst von herausragender kulturhistorischer Bedeutung sind. „Das Kapital“ von Karl Marx gehört eindeutig in diese Kategorie und die TIB hat nun eine – in ihrer Ausführung besonders seltene Ausgabe – digitalisiert.

Die Retrodigitalisierung an der TIB
Am TIB-Standort Rethen werden Werke aus dem Altbestand der TIB gescannt, der überwiegend aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert stammt. Die Digitalisate werden online zur Verfügung gestellt, sofern sie urheberrechtsfrei sind oder die Genehmigung zur Veröffentlichung vorliegt.

Das blaue Kabinett

Am Standort der TIB Technik/Naturwissenschaften im sogenannten blauen Kabinett, in der unter anderem die „Sammlung Haupt“ untergebracht ist, befindet sich in einem separat geschützten Bereich auch ein ausgewählter Bestand besonders wertvoller Bände. Darunter sind auch die ersten beiden Bände der Erstausgabe des Werks „Das Kapital“ von Karl Marx (geb. 1818 in Trier, gest. 1883 in London). Diese wurden jetzt zur Digitalisierung an den TIB-Standort Rethen gebracht. Bei den Arbeiten hierzu sind interessante Ausgaben und Fakten zu Tage getreten, die im Folgenden dargestellt werden.

Vorhandene Bände der Erstausgabe

Vom ersten Band, der 1867 publiziert wurde und dem 1885 der zweite Band folgte, besitzt die TIB besonders wertvolle Erstausgaben: Bei diesen Exemplaren sind die Titelblätter der Broschur mit anderer Typographie erhalten geblieben. Es sind nur ganz wenige Exemplare, insbesondere der ersten Auflage von Band 1, bekannt, die beide Titelblätter aufweisen. Es handelt sich beim ersten Blatt um eine sogenannte Interimsbroschur: Bücher wurden im 19. Jahrhundert lange ohne festen Einband ausgeliefert. Die Broschur bestand in der Regel aus einem losen Einband aus einfachem Papier oder dünnem Karton, auf dem die Angaben zum Buch standen. Nach dem Kauf konnte man das Buch dann nach eigenem Geschmack einbinden lassen und die Interimsbroschur wurde entsorgt. Diese vorläufigen Einbände blieben deshalb relativ selten erhalten, weil sie beim regulären Binden entfernt wurden.
Von Band 3 (in zwei Teilen erschienen) hat die TIB sogar jeweils zwei Erstausgaben von 1894: Deren Standort war bisher allerdings nicht das blaue Kabinett, sondern die TIB-Standorte Sozialwissenschaften (Band 1, Band 2) und Conti-Campus (Band 1, Band 2).  

Künftig werden alle Bände im Bereich Rara – der für seltene, wertvolle oder historische Drucke und Handschriften steht – zusammengeführt und in spezieller Schutzverpackung aufbewahrt.

 

Wie kamen die Bände in die Bibliothek?

Band 1: Im Archiv der TIB/Universitätsarchiv Hannover werden die alten Akzessionsbücher der Bibliothek der Königlich Polytechnischen Schule zu Hannover und Polytechnischen Schule zu Hannover (1847–1879) aufbewahrt. Im „Accessions=Katalog für 1867“ ist der erste Band aufgeführt: Marx, Das Kapital I.1 ist für 3 Preußische Vereinstaler und 10 Silbergroschen von der Helwingschen Verlagsbuchhandlung erworben worden, einer wichtigen und etablierten Buchhandlung in Hannover.

Band 2: Dieser Band findet sich im „Akzessions=Katalog für 1885 bis 1886“ zusammen mit der dritten Auflage des ersten Bands. Diese sind für 17 Reichsmark (nach der Währungsreform nach der Reichsbildung von 1871) von der Firma Schmorl und von Seefeld bezogen worden.

Band 3, Teil 1 und 2: Am 1. Januar 2003 erfolgte die Übernahme der Fachbereichsbibliotheken der Niedersächsischen Landesbibliothek NLB (heute Gottfried Wilhelm Leibniz Bibliothek, Niedersächsische Landesbibliothek, GWLB) durch die TIB (damals UB/TIB) mit allen Personalstellen und zugehörigen Sachmitteln. Seitdem befinden sich die Bände von Teil 3 im Bestand der TIB – angeschafft wurden sie jedoch noch zu Zeiten, in denen die Standorte der GWLB zugehörig waren.
Die beiden Teile von Band 3, die am TIB-Standort Sozialwissenschaften  vorhanden sind, sind zusammen mit neueren Ausgaben der Bände 1 und 2 am 27. Juni 1979 über das Antiquariat Marco Pinkus in Dübendorf (Zürich) in der Schweiz für 400 DM gekauft worden. Für die beiden am Conti-Campus vorhandenen Bände von Teil 3 ist eine Schenkung vom 23. November 2001 an die Niedersächsische Landesbibliothek, Wirtschaftswissenschaftliche Fachbereichsbibliothek, dokumentiert.

„Dies ewig unfertige Ding“: Warum vermutlich eine dritte Auflage gekauft wurde

Friedrich Engels schrieb am 27. April 1867 an Karl Marx:

„Dies ewig unfertige Ding drückte Dich körperlich, geistig und finanziell zu Boden, und ich kann sehr gut begreifen, daß Du jetzt, nach Abschüttelung dieses Alps, Dir wie ein ganz anderer Kerl vorkommst, besonders da die Welt, sobald Du nur erst wieder einmal hineinkommst, auch nicht so trübselig aussieht wie vorher.“[1]

Warum wurde von Band 1 noch einmal die dritte Auflage des ersten Bandes gekauft?
Karl Marx hat nach dem Erscheinen des ersten Bandes für die zweite Auflage und die französische Ausgabe[2] vieles überarbeitet. Diese umfangreichen Änderungen mögen die Bibliothek dazu bewogen haben, den ersten Band in einer neueren Auflage (zusammen mit Band 2) noch einmal zu erwerben.

 

Ein Hinweis auf Papier: Was ein Zettel von 1967 über den Einband verrät

Bei den Bibliothekseinbänden lässt sich leider nicht genau feststellen, wann sie entstanden sind. Dazu gibt es keine Aufzeichnungen oder Vermerke. Ein Hinweis findet sich allerdings im ersten Band: Am Ende ist ein Blatt von 1967 mit eingebunden worden, dass vom Antiquariat T. Ackermann in München stammt. Hier ist der Punkt 338 „Das Kapital“ eingekreist und mit den Worten „haben wir!“ versehen.

Auch der Preis von 1.200 DM ist am Ende der Seite noch einmal groß handschriftlich vermerkt. Daraus lässt sich zum einen die Begeisterung für das im Besitz befindliche Werk und seinen für die 1960er Jahre hohen Preis entnehmen. Zum anderen kann man daraus den Rückschluss ziehen, dass auch der Einband circa 1967 hergestellt worden ist. Heute wird die Erstauflage des ersten Bandes für bis zu 250.000 Euro zum Kauf angeboten. Was die Ausgabe der TIB mit den seltenen Titelblättern wert ist, ist schwer zu sagen.

 

Nachlass Erich Gerlach

Erich Gerlach (geb. 1910 in Friemersheim/Kreis Moers, gest.1972 in Northeim) war ein deutscher Politiker (SAPD, SPD) und Wirtschaftswissenschaftler. Von 1947 (seit der ersten Wahlperiode) bis 1972 war er Abgeordneter des Niedersächsischen Landtags für die SPD, Redakteur der „Sozialistischen Politik“ von 1954 bis 1963 sowie Lehrbeauftragter der Universität Hannover von 1969 bis 1972.

Die Monographienbestände der Arbeitsbibliothek aus Gerlachs Nachlass sind Teile des Gewerkschaftsarchivs, im OPAC nachgewiesen und zur Benutzung im Lesesaal am Standort TIB Technik/Naturwissenschaften bestellbar. Gerlach war im Nachkriegsdeutschland zwischen 1945 und 1970 einer der bedeutendsten Marxkenner und spielte eine zentrale Rolle für die Sozialdemokratie der Nachkriegsgeschichte.


Zwei Ausgaben des Kapitals hat er bearbeitet und kommentiert: Am 5. November 1929 im Alter von 19 Jahren hat er sich noch während seines Studiums die 10. Auflage 1922 des Kapitals im Meissner Verlag von Band 1 und 2 und von den Bänden 3,1 und 3,2 die sechsten Auflagen 1922 zugelegt (Band 1, Band 2, Band 3,1, Band 3,2)
Später kamen die 4. Auflage von 1953 im Dietz Verlag dazu. (Band 1, Band 2, Band 3)


In allen Bänden gibt es Anstreichungen, mal mit Bleistift, mal mit rotem Buntstift, handschriftliche Kommentare, eingelegte Zettel mit seinen Notizen, teilweise in Stenographie. Gerlachs Bearbeitungen und Anmerkungen sind für die Forschung von Bedeutung, sodass an dieser Stelle alle von Gerlach kommentierten Auflagen zum Kapital digitalisiert worden sind.


Aus der Sammlung Gerlach wurden zum Thema „Das Kapital“ noch weitere Werke digitalisiert. Mit dieser Erschließung entsteht gleichsam ein Kaleidoskop eines wissenschaftlich bedeutsamen Werkkreises und ein digitaler Fundus, der zum einen die wertvollen Erstauflagen, zum anderen die kommentierten Ausgaben Erich Gerlachs und weitere Werke rund um das Werk „Das Kapital“ enthält und darüber hinaus exemplarisch zeigen kann, welche Möglichkeiten die Retrodigitalisierung bietet.

 

[1] Engels an Marx, 27.04.1867, in: MEW, Bd. 31, Berlin (Ost) 1965, S. 292.

[2] Karl Marx: Le capital: Traduction de M.J. Roy. Paris 1873.

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